Einsteigen, anlassen, losfahren – was für uns heute selbstverständlich ist, davon konnten die Automobilisten in der Gründerzeit nur träumen. Schon das Starten war eine schwere Übung, sagt Michael Plag. Und er weiß, wovon er spricht. Schließlich ist er Mechaniker im Mercedes Classic Center in Fellbach und dort der Pate für die ganz alten Modelle. Heute steht er vor einem der weltweit letzten Mercedes Simplex von 1902 und kämpft mit der gewaltigen Kurbel. Alleine das Schwungrad wiegt mehr als 40 Kilogramm und will erst mal auf Touren gebracht werden. So also haben unsere Großväter ihre Kraft trainiert.
Doch es braucht nicht nur Muskeln, um den 6,5 Liter großen Vierzylinder in Gang zu bringen. Sondern vor allem Methode, viel Fingerspitzengefühl und ein bisschen Glück. Erst baut Plag deshalb mit einer kleinen Handpumpe die Kompression auf, dann dreht er den Kegel mit dem Dichtfett für die Wasserpumpe ein Stück weiter nach vorn, schaltet die Zündung ein und hofft, dass er nicht ganz so lange kurbeln muss.
Diesmal geht es überraschend schnell: Es zischt zwei, drei Mal laut und vernehmlich, dann schlagen kurz ein paar Flammen aus den Ventilen, und mit einem satten Tuckern beginnt das Stampfen der vier Zylinder, die jeweils paarweise gegossen sind und ein imposantes Format erreichen.
Der laufende Motor ist aber nur die halbe Miete. Jetzt muss man den Wagen auch noch in Fahrt bringen. Dafür legt man mit dem außen angeschlagenen Schaltknauf den ersten Gang ein, löst die ebenfalls von außen montierte Handbremse und spielt so geschickt mit der schwergängigen Kupplung, dass es das Getriebe nicht allzu viele Zähne kostet – schließlich muss bei diesem Auto jedes Ersatzteil von Hand gefertigt werden – das macht Fahrfehler zu einem teuren Vergnügen.
Kommt die Fuhre erst einmal ins Rollen, lässt sich der Wagen überraschend einfach dirigieren – zumindest so lange es geradeaus geht. Um die Kurve dagegen bekommt man den 108 Jahre alten Brocken nur mit den Oberarmen eines Preisboxers: Das Lenkrad ist klein wie bei einem Bobbycar und so dick, dass es die Hände kaum umschließen können. Aber vor allem, lässt es sich kaum drehen, so schwer lastet der Motor auf den riesigen Speichenrädern. Ja, genau deshalb nennt man das Auto auch Kraftfahrzeug, sagt Mechaniker Plag auf der kurvigen Strecke und schaut dabei so angestrengt, dass man nicht weiß, wie ernst er das tatsächlich meint.
Während es deshalb durch enge Kurven nur langsam geht, macht der Mercedes auf der Geraden reichlich Meter: 40 PS sind allemal genug, um den offen und ungeschützten Passagieren eine frische Brise um die Nase zu zaubern. Wo andere Oldtimer aus dieser Zeit noch mit vier oder acht PS auskommen mussten und deshalb kaum schneller waren als eine Kutsche, schreitet der Weiße Riese mit dem betagten Kettenantrieb kräftig aus und schafft selbst heute noch 70 oder 80 Sachen. Damals waren sogar noch mehr drin, sagt Plag. Nicht umsonst war dieses Auto das schnellste seiner Zeit. 111 km/h habe der Simplex von 1902 geschafft und sich damit sogar im Guinness-Buch verewigt.
So lässt Plag den Oldtimer durch die Herbstlandschaft rollen und erzählt nebenbei im Plauderton, wie das Auto zu seinem Namen Beinamen kam. Dass Daimlers Wagen Mercedes hießen, weil der erste Großkunde Emil Jelinek aus Nizza damit seiner Tochter Mercedes schmeicheln wollte, ist mittlerweile weithin bekannt. Doch dass ausgerechnet Kaiser Wilhelm für den Namen Simplex Pate stand, ist eine schöne und für viele neue Anekdote. Doch waren ihre Majestät offenbar so beeindruckt von der damals modernen Konstruktion und der einfachen Bedienung, dass der Kaiser Konstrukteur Maybach mit dem Ausspruch das sei ja alles sehr simplex hier lobte und dem Wagen so seinen Namen gab.
Für die damalige Zeit mag das sogar stimmen. Immerhin waren Autos zu Beginn des 19. Jahrhunderts komplizierte Konstruktionen, die man alle paar Meilen mit dem Ölkännchen pflegen und mit dem Schraubenschlüssel justieren musste. Doch heute machen wir an Bord eine anstrengende Zeitreise. Denn nicht nur der Fahrer kommt beim Ritt auf dem Weißen Riesen ins Schwitzen. Auch die Passagiere haben alle Hände voll zu tun. Um die fragile Kupplung zu entlasten, schieben sie den Wagen beim Start lieber ein paar Meter lang an, und während der Fahrt wird der Sozius zum Maschinisten, der den steten Tropfenfluss in den Schaugläsern des Ölers kontrolliert, die Kompression im Tank im Auge behält und den Stempel mit dem Spezialfett für die Wasserpumpe regelmäßig weiter nach vorne schraubt.
Obwohl Plag den Wagen kennt wie kein anderer und der Veteran alle paar Monate mal bewegt wird, ist das Ankommen nicht garantiert: Bei so alten Autos kann immer irgendwas passieren, sagt Plag, dem selbst zum Beispiel beim Start zu einer berühmten Rallye schon mal direkt am Start der Schaltknüppel abgerissen ist.
Das war früher nicht anders: Obwohl man für den Simplex umgerechnet auf heutige Verhältnisse rund eine Million Euro bezahlen musste, waren Pleiten, Pech und Pannen in den Gründertagen des Automobils eher die Regel als die Ausnahme. Gestört hat das die Kunden allerdings kaum. Für sie waren die frühen Automobile eher Spielzeug als Fortbewegungsmittel. Wer wirklich sicher ankommen wollte, der nahm Pferd oder Kutsche.
Text und Fotos: Spot Press Services/Benjamin Bessinger