Würde sie noch leben, hätte Gisèle d’Ailly-van Waterschoot van der Gracht alles darangesetzt, das Erscheinen dieser
Biographie zu verhindern. In solchen Dingen konnte sie sehr weit gehen. Bei einer Buchveröffentlichung aus dem Jahr 2005, in der
zwei Seiten, die von ihr handelten, nicht auf ihr Wohlwollen stießen, wollte sie die komplette Auflage des Werks aufkaufen, um so die
weitere Verbreitung zu verhindern. Ihre Intervention kam zu spät, führte jedoch dazu, dass unmittelbar darauf eine zweite Auflage
erschien, in der die für sie anstößigen Passagen entfernt worden waren.“
Gisèle van Waterschoot van der Gracht (1912–2013) ist tatsächlich 100 Jahre alt geworden. Nicht nur wegen ihres biologischen Alters war sie irgendwann eine Zeitzeugin. Befreundet unter anderem mit Aldous Huxley und Max Beckmann, bekannt mit Lion Feuchtwanger, Künstlerin, Mäzenin, schillernde Figur. Im Zentrum ihres Lebens schließlich Amsterdam, ihre Wohnung zugleich eine Lebensform, die man später „Wohngemeinschaft“ nennen würde.
Annet Mooji hat sich mit dieser Lebens- und Wohngemeinschaft intensiv und unvoreingenommen beschäftigt und folglich auch deren Schattenseiten herausgearbeitet. Ihr Buch ist die Beschreibung eines Lebens, das vor fast genau zehn Jahren zu Ende ging und dessen junge Jahre folglich noch länger zurückliegen. Und doch ist Gisèle van der Gracht nicht nur eine historische Figur. In einer Zeit, in der „diversity“ heftig und kontrovers diskutiert wird, in der überlieferte Familienformen längst nicht mehr so selbstverständlich sind wie früher, ist Mooijs Buch hochaktuell. Man kann es „in einem Rutsch“ lesen, spannend genug geschrieben ist es. Es eignet sich aber auch als Lektüre für den Nachttisch, die man wieder und wieder zur Hand nimmt.
Annet Mooji: Das Jahrhundert der Giséle. Wallstein Verlag; 34 Euro.