Lese-Tipp – Hein: Hypochonder leben länger

Er musste durch brennende Reifen springen – im übertragenen Sinn jedenfalls. Denn wie eine solche Übung  kam Jakob Hein sein Medizinstudium vor. Der Wunschberuf – Psychiater – war schon vorhanden, als eine Vorstellung vom Weg dahin noch gar nicht vorhanden sein konnte. Inzwischen ist Jakob Hein seit mehr als 20 Jahren im Wunschberuf tätig. Nachdem er in seinem Zweitberuf als Schriftrsteller mit ganz anderen Themen schon mehrfach hervortrat, widmet er sein neuestes Buch jetzt seinen Erfahrungen als Mediziner. Er ist offenbar mit Erfolg durch die „brennenden Reifen gesprungen“ und hat es von den ersten Semestern mit reinem „Anpauken“ naturwissenschaftlicher Fakten zur Promotion geschafft. Zum Doktor der Medizin.

Denn genau das ist er als Psychiater, ein Mediziner, auch wenn das im Bewusstsein von erstaunlich vielen Mitmenschen noch nicht angekommen zu sein scheint. Seltsam hartnäckig hält sich offenbar das Bild „von außen ein Sigmund-Freud-Klon, dem Wesen nach vor allem wunderlich“. Und so scheint diese Sorte Facharzt nur per Eingebung zwischen verschiedenen Psycho-Diagnosen zu wabern, ganz ohne die diagnostischen Hilfsmittel, wie sie etwa Internisten, Orthopäden und Augenärzte haben. Allenfalls Zwangsjacken gehören zum Bestand beim „Irrenarzt“ – so lautet auch eine Kapitelüberschrift. Nach den Bezugsquelle von Zwangsjacken wurde er, noch als Klinikarzt, jedenfalls einmal ganz offiziell von einem Journalistenteam gefragt. Heute ist er in eigener Praxis niedergelassen und auf Kinder- und Jugendpsychiatrie spezialisiert.

Jakob Heins satirischer Zuspitzung ist zu danken, dass er schafft, was er zwischendrin auch ganz ernsthaft und ganz deutlich sagt: Psychische Erkrankungen sind Erkrankungen wie alle anderen auch. Dass sie so hervorragend zum Stigma taugen (eine Medizinstudentin fragte den Arzt Jakob immerhin einmal, warum Psychiater allesamt einen „an der Klatsche“ hätten), liegt wohl vor allem an einer jahrelangen Tradition. Denn das verlässliche Wissen um die unterschiedlichen psychischen Erkrankungen ist noch vergleichsweise jung. Und so mögen die hier so drastisch dargestellten Klischees vor noch nicht allzu langer Zeit Realität gewesen sein.

Und heute? Ein guter Psychiater arbeitet, so Hein, nicht nach dem Schema „Patient fragt – Arzt antwortet“. Er bringt seine Patienten viel mehr dazu, sich selbst die geeigneten Fragen zu stellen – um dann für sich selbst zu einer Lösung zu kommen.

Das ist dann schon ein großer Unterschied etwa zur Angina, die der Hausarzt schnell diagnostiziert und notwendigerweise mit Tabletten auf Rezept behandelt. Und genau das ist Jakob Heins große Leistung: Er beschreibt seinen eigenen Fachbereich an eigenen Erfahrungen als einen, der sich vom klassischen Arztbild extrem unterscheidet – und doch von ganz klassischen Ärzten besetzt ist. Auch ohne Skalpell und EKG-Messung haben sie das Ziel wie ihre mit Gerätschaften ausgerüsteten Kollegen auch: Leiden zu heilen – oder mindestens so zu lindern, dass ein Höchstmaß an Lebensqualität gegeben ist.

Ach so: Warum leben Hypochonder denn nun länger? Ganz einfach, sagt Hein. Sie kümmern sich beizeiten um ihre Symptome, lassen sie ärztlich abklären und ermöglichen demjenigen, der behandelt, ein frühes Handeln – und damit oft die beste Chance auf Heilung.

Jakob Hein: Hypochonder leben länger und andere gute Nachrichten aus meiner psychiatrischen Praxis. Galiani Berlin. 20 Euro. e-Book: 16,99 Euro

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