Wenn ein Drehbuchautor die Dramaturgie der 84. Auflage der 24 Stunden von Le Mans vorher zu Papier gebracht hätte, wäre er als – vorsichtig formuliert – sehr phantasiebegabt durchgegangen. Allerdings hatte es während der letzten Tage schon erste Anzeichen gegeben, dass die – offiziell angegebenen – 263.500 Zuschauer wohl ein ganz besonderes Rennen mit kleinen und größeren Dramen sehen würden.
Die Wetterkapriolen der letzten Woche hatten die minutiösen Ablaufpläne der Teams gehörig durch einander gewirbelt. Davon betroffen waren insbesondere die großen Drei – Audi, Porsche und Toyota. Sie konnten nicht so agieren, wie es eigentlich notwendig gewesen wäre. Konkret: Die Rotphasen am vergangenen Mittwoch und Donnerstag nahmen den Teams die zeitlichen Möglichkeiten, die letzten Eckpunkte anzupassen. Und diese kleinen Details, mit letztlich großer Wirkung, setzten sich – quasi wie ein roter Faden – weiter fort.
Auch der Wolkenbruch am Samstag, der hektische Aktivitäten auf der Start- und Ziel gerade auslöste, bevor nur ein Meter gefahren worden war, machte alle Rennplanungen gleich wieder zunichte. Denn niemand hätte sagen können, wie viele Runden das Safety Car auf der Strecke bleiben würde, bis die Wassermassen soweit abgelaufen waren, um einen geordneten, sicheren Start für alle zu ermöglichen. Die Gischt der breiten Rennreifen ist ein ernst zu nehmender Faktor – außer für den Führenden. Und nach dem das Safety Car nach rund einer Stunde auf Geheiss der Rennleitung die Strecke freigab, gingen die kleineren und größeren Dramen munter weiter. Ein Turbolader-Defekt – zuvor noch nie aufgetreten – raubte dem ersten Audi alle Chancen. Und auch beim Porsche von Timo Bernhard lief es nicht rund. Gemeinsam mit seinen Team-Kollegen fielen sie ebenso zurück. „Einen großen Glückwunsch an unser Schwesterauto und das Team, das diesen Sieg wirklich verdient hat,“ sagte Timo. „Sie haben 24 Stunden lang um die Führung gekämpft und lagen am Ende absolut in Schlagdistanz. Zugleich fühle ich mit dem gesamten Toyota-Team mit: ein Rennen so zu verlieren, ist grausam. Auch wir hatten kein Glück. Das tut mir sehr leid für Mark, Brendon und unsere Mannschaft. Denn die Jungs machen einen hervorragenden Job und haben den 919 Hybrid nach dem Defekt wieder zum Laufen gebracht. Unsere Crew ist in diesem Jahr arg gebeutelt. Aber damit müssen wir umgehen können. Unser Auto war sehr schnell und wir konnten nach der langen Reparaturpause mühelos das Tempo des Führungstrios mitgehen. Immerhin haben wir am Ende noch Herstellerpunkte für Porsche erobert. Nächstes Jahr kommen wir wieder, ich gebe nicht auf. Der Sieg für Porsche muss her.“ Sie kämpften, hatten aber mit dem Ausgang des Rennens nichts mehr zu tun.
Alles sah bereits nach dem ersten Sieg eines japanischen Herstellers seit vielen Jahren aus. Toyota führte sicher – bis zur letzten Runde. Nach 23 Stunden und 56 Minuten blieb der Toyota ausgerechnet auf der Start- und Ziel-Geraden, direkt vor der eigenen Box liegen.
Drama pur, Emotion total – für alle Beteiligten. Denn innerhalb der vom Reglement vorgegebenen Zeit kam der Renner nicht vom Fleck und verlor alles. Ein Elektronik-Problem war, so war zu hören, der Auslöser für eines der größten Dramen der Le Mans Geschichte.Davon profitierte das Schwester-Auto von Timo Bernhards Marken-Kollegen, die so den Gesamtsieg erbten.
Damit wurde der bereits angesprochene, von Motorsport-begeisterten Engländern geprägte BegriffWhen you want to finish first, you first have to finish in diesem Jahr besonders dramatisch unterstrichen. Denn in solcher kaum nachvollziehbaren Dramaturgie hatte es diese letzten Minuten bisher nicht gegeben. Aber auch dies ist eine der „Stories“, die in den nächsten Jahren den Mythos der 24 Heures du Mans um eine weitere, ganz besondere Facette bereichern wird – vor allem bei all jenen die live und auf dem Kurs an der Sarthe dabei gewesen sind!
Text und Bilder: Bernhard Schoke