Der Fiat-Konzern konnte seine edle Tochter nicht aus der Krise befreien. Lancia, einst der Inbegriff eines avantgardistischen Autobauers mit viel Feingefühl für schöne Formen, konzentriert sich mit dem verbliebenen Kleinwagen Ypsilon künftig auf den italienischen Markt. Legendäre Marken sterben selten in Schönheit. Es ist fast jedes Mal ein schmerzhafter Abschied auf Raten, der es an Würde vermissen lässt. Rover oder die noch immer zuckende Marke Saab sind nur zwei traurige Beispiele.
Jetzt folgt Lancia, ein Traditionsunternehmen, das nächstes Jahr seinen 110. Geburtstag feiert und das lange Zeit zu den innovativsten Autoherstellern überhaupt zählte. Als letztes Modell soll die italienische Ikone unter den Lifestyle-Minis, der in vier Generationen und mehr als 2,7 Millionen mal verkaufte Ypsilon, die kaum noch flackernde Flamme auf dem Heimatmarkt weitertragen, bis sie wahrscheinlich irgendwann ganz erlischt.
Ein klägliches Ende der einst von Vincenzo Lancia gegründeten und seit 1969 im Besitz von Fiat befindlichen großen Marke. Technik und Couture vom Feinsten ohne Rücksicht auf die Kosten und dies sogar in der kleinsten Klasse – das war es, wofür Lancia stand und was der Turiner Edelfabrik zum Verhängnis wurde. Viel Geld verdient haben die genialen Italiener zu selten, zumal nur kleine Modelle wie der Ypsilon mehrfache Produktionsmillionäre wurden.
Der Morgen des 4. März 1985 war sonnig, aber bitterkalt. Doch den Männern, die sich vor den Toren der Genfer Messe um den Mini mit den eigenwilligen und zugleich extravaganten Formen scharten, machte die Kälte nicht das Geringste aus. Wie beobachtende Journalisten zu berichten wussten, diskutierten die Mitarbeiter des Fiat-Konzerns noch einmal hitzig die Frage, unter welcher Flagge – sprich welchem Markenlogo – der 3,39 Meter kurze und 720 Kilogramm leichte Kleinwagen nun fahren sollte. Dabei war doch längst alles entschieden. Der Y10 – benannt nach dem gleichnamigen Entwicklungscode – sollte die Lancia-Renaissance im City-Car-Segment beflügeln und zugleich die Nachfolge des Autobianchi A112 antreten. Dieser hatte 1969 das Konzept des englischen Minis um eine Heckklappe ergänzt und in feinste italienische alta moda gekleidet.
Lifestyle, der nun von den Autobianchi-Entwicklern in die Formen der 1980er Jahre gebracht wurde und mit dem Y10 debütierte. Autobianchi war jene Avantgarde-Marke innerhalb des Fiat-Konzerns, bei der die Mutter neue Konzepte wie Frontantrieb und Heckklappe erprobte, bevor sie auf Fiat-Fahrzeuge übertragen wurden. Eine feine Nischenmarke, deren Einstellung Fiat Auto aber schon 1975 beschlossen hatte. Autobianchi wurde nun in Lancia integriert, zumal die Händlernetze in verschiedenen Ländern ohnehin beide Marken vertrieben. Dennoch erhielt Autobianchi mit dem Y10 als kompromisslos-kantigem Aerodynamik-Weltmeister der kleinen Klassen (cW-Wert 0,31) eine Gnadenfrist, wovon auch die Genfer Weltpremiere zeugte. Die Ausstellungsfahrzeuge trugen das Autobianchi-Logo, die Presseinformationen gab es auch mit Lancia-Label. So wie die Vermarktung, abgesehen von Italien und drei weiteren Märkten, mit Lancia-Logo erfolgte.
Begeisterung oder Ablehnung – das waren die radikalen Reaktionen des Premierenpublikums zur Formensprache des Lancia-Adoptivkindes, dessen Linienführung das Centro Stile Fiat gefunden hatte. Dies unter Berücksichtigung von Entwürfen der Formenkünstler Giugiaro und Pininfarina. Eine geniale Kooperation, wie die Fachwelt sofort befand. Denn mit seiner exzentrischen Couture gewann der Y10 nicht nur die damals begehrteste italienische Designauszeichnung Torino-Piemonte, sie gab dem Italo-Stadtauto ein Gesicht bzw. ein aerodynamisches Kammheck, aus dem Ikonen gemacht werden. Nur so gelang es dem individuellen und kostspieligen Super-Mini über alle Generationen bis zum aktuellen Ypsilon, zumindest in Italien verblüffende Verkaufserfolge zu erzielen. So konnte der Y10 bereits 1987 über 150.000 Zulassungen allein auf dem Heimatmarkt erzielen, während sich spätere Ypsilon-Generationen mehrfach als meistverkaufte dreitürige Pkws in Italien feiern ließen – trotz Konkurrenz durch die kleinen Fiat-Bestseller.
Noch vor diesen verfügte der Y10 über einen neuartigen Basis-Benziner, den sogenannten 45 Fire. Fire stand für „Fully Integrated Robotized Engine – das Triebwerk wurde komplett von Robotern zusammengesetzt. Nach nur 30 Monaten wurde der später auch in Fiat Uno und Panda eingesetzte 33 kW/45 PS-Vierzylinder Produktionsmillionär – das war in der Geschichte der italienischen Motorenfertigung Rekord. Und auch mit einem Turbo-Triebwerk machte der Y10 Schlagzeilen. Gerade einmal 62 kW/85 PS machten den 3,39 Meter kurzen Lancia damals zu einer Beschleunigungsrakete, die nach 9,5 Sekunden die 100-km/h-Marke passierte. Schneller waren nicht einmal die stärkeren MG Metro Turbo, Ford Fiesta XR-2 oder Peugeot 205 GTI. Und noch eine Spezialität: Allradantrieb schon ab 1986! Dieses bis auf Fiat Panda und Subaru Justy damals vor allem teuren Premium-Pkw wie etwa den Audi quattro und BMW ix-Typen vorbehaltene Luxusattribut unterstrich den Avantgardestatus des Y10. Dazu passend gab es ab 1989 auch eine stufenlose CVT-Automatik, bei Kleinwagen noch sehr selten, aber besonders von Frauen geschätzt.
Der Anfang einer Entwicklung hin zum Liebling der Damen. Diese favorisierten das designorientierte City Car auch in der 1996 präsentierten zweiten Generation (mit dem Namen Y) und der 2003 folgenden dritten Auflage (als Ypsilon) bis zum aktuellen, 2011 vorgestellten Ypsilon. Der nun dem Zeitgeist Tribut zollt durch fünf Türen und einen 0,9-Liter-Zweizylinder-Motor. Ganz anders noch die vorhergehende dritte Generation, die sich dem Retrotrend verschrieb mit einer Rückansicht, die den legendären Lancia Ardea aus dem Jahr 1939 zitierte.
Gleich in welchem Jahr, immer differenzierte sich der Mini-Lancia mit seinem ungewöhnlichen Styling und seiner anspruchsvollen Ausstattung von mageren Allerwelts-Kleinwagen oder niedlichen Knubbelautos. „Maßgefertigter Luxus“, nannte Lancia sein Lifestylekonzept. Schon ab 1996 konnten Y-Käufer bzw. eben vor allem Käuferinnen aus über 100 verschiedenen Metalliclackierungen ihren Favoriten wählen (Kaleidos-Ausstattung), während eine beispiellose Vielzahl an Sonderserien unterschiedlichsten Modeströmungen und Kultmarken Rechnung trug. Seien es die kleinen Elefanten, die an Lancias Motorsporttradition erinnerten, Cosmopolitan, Elle, Moda Milano oder Vanity, alle Sondermodelle fanden ihre Fans. Entsprechend begehrt ist in diesem Jahr zumindest in Italien auch das Jubiläumsmodell „30th Anniversary“. Was bleibt vom Ypsilon, wenn er aus den hiesigen Preislisten verschwindet? Er ist ein Sammlerfahrzeug, dem alle Fans italienischer macchina nachweinen werden. Ein Lancia, auf den vielleicht eine goldene Zukunft in der Klassikerszene wartet, dort wo alle Modelle der Marke bereits heute begehrte Pretiosen sind.
Text: Spot Press Services/Wolfram Nickel
Fotos: Lancia/SP-X