Buchtipp – Sacks: Alles an seinem Platz

Wie viele Jahre der Mann reglos in einer Ecke des Zimmers gestanden hatte, war später nicht mehr festzustellen. Überhaupt war er von dem Medizinstudenten Oliver Sacks und seinem Mentor mehr oder minder zufällig entdeckt worden, weil sie sich eigentlich um einen anderen Patienten im Hause kümmern sollten.

Hatte der vermeintlich Reglose aber erst einmal die Aufmerksamkeit von Medizinern sicher, war die Diagnose geradezu erschreckend einfach: Die Funktion der Schilddrüse war völlig zum Erliegen gekommen. Führte man die von ihr normalerweise produzierten Hormone medikamentös zu, fand der Patient zurück in ein unauffälliges Leben mit gesunden Körperfunktionen.

Das war in den Fünfzigern. Erlebnisse wie diese haben Oliver Sacks und seine jahrzentelange Arbeit als Neurologe erkennbar geprägt. Vermeintlich nicht zugängliche Erkrankungen finden verblüffend einfache Erklärungen und Therapien. Manchmal sind sie nur von kurzer Dauer, also Heilung tatsächlich nicht möglich – so hat er es in „Awakenings – Zeit des Erwachens“ beschrieben. Ganz sicher verdanken wir Sacks einen der wohl wichtigsten Grundsätze der modernen Neurologie: Ein harmloses Ereignis, ein Stolpern, eine ruckartige Kopfbewegung – das kann ausreichen, um eine massive Auffälligkeit auszulösen. Im Gehirn hat sich, im wahrsten Sinne des Wortes, etwas „ver-rückt“. Selbst ein harmloser, aber extrem lästiger Schluckauf entspringt einem recht komplexen Geschehen im Körper. Ebenfalls zur Migräne verdanken wir ihm wichtige Erkenntnisse: Auch wenn diese Kopfschmerzform immer noch gerne als „eingebildete Krankheit“ oder Modediagnose wahrgenommen wird, steht dahinter für Betroffene ein äußerst unangenehmes und nicht einfach zu therapierendes Geschehen.

Viele Beschreibungen von allerlei Beobachtungen fanden sich im Nachlass des 2015 verstorbenen Mediziners und Autors. Aus ihnen ist dieses Buch entstanden. Sacks erzählt von dem, was ihn beeinflusst hat, von Vorbildern, Vorlieben, natürlich auch skurril anmutende Erinnerungen. Besonders auffallend ist hier sein Talent zur kritischen Selbstbeobachtung: Furcht, Neugier, Interesse – Sacks weiß sehr genau, welche Erlebnisse ihn wie geprägt haben. Das hat seine Arbeit mit Patienten zweifelsfrei positiv beeinflusst.

Medizinische Themen, die sich spannend wie ein Krimi lesen – das zeichnet dieses Buch in besonderer Weise aus. Sein Kapitel einer Reise in das Wissen um das Gehirn macht zugleich deutlich: Viele Rätsel um dieses Organ muss die Wissenschaft erst noch lösen.

Oliver Sacks: Alles an seinem Platz. Erste Lieben und letzte Fälle. Rowohlt Verlag; 24 Euro.

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