Liebe Leserin!
Lieber Leser!

Der Winter – das werden wir in dieser Woche auch diejenigen unter Ihnen bestätigen müssen, die im Flachland zu Hause sind – hat uns für sich eingenommen. Endlich, werden diejenigen sagen, die diesen Temperaturen und diesem Gemisch aus gefrorenem Wasser namens Schnee etwas Romantisches oder gar etwas zur Freizeit-Gestaltung abgewinnen können. Leider werden indes diejenigen stöhnen, die mit alldem nichts, aber auch gar nichts „am Hut“ haben und sich entweder zu Fuß oder eben mit dem eigenen Auto durch Schneewehen oder über vereiste Straßen kämpfen müssen.

Nun, ich gehöre zu beiden Lagern, bin aber auch in der Lage, als Automobilist noch etwas Winter-Romantik finden zu können. In einem kleinen Dorf im Westen der Republik aufgewachsen, war es für uns Kinder immer ein Ereignis, wenn der Streuwagen über unsere winterlichen Straßen fuhr. Der war natürlich vor mehr als 50 Jahren noch nicht mit einem Teller ausgerüstet, der die Menge an Sole oder Salz haargenau dosierte und möglichst punktgenau so verteilte, dass auch keine Rabatte betroffen wurden und damit auch die Umwelt nicht belastet wurde.

Zu meiner Kinderzeit standen auf der Pritsche des Lastwagens – denn genau so sahen die Räumfahrzeuge damals aus – Männer mit Schirmmützen in großen Gummistiefeln, die mit einer großen Schippe bewaffnet waren. Von der Lkw-Pritsche aus schippten sie wie wild im Halbkreis den Splitt (heute natürlich verboten) auf die Straße, um damit der Glätte und dem Frost zu Leibe zu rücken. Schnee hatten wir damals in rauen Mengen, glaube ich mich zu erinnern. Aber das wird wahrscheinlich jedem von Ihnen so ergehen, der in etwa in meinem Alter ist.

Für uns Kinder, die am Rande der Straße auf unseren Holzschlitten in größtenteils durchnässten Klamotten den Berg hinunter rutschten, war das eine Abwechslung. So etwas wie Funktionskleidung gab es damals nicht. Auf die Strümpfe, die Mutter und Großmutter gestopft hatten, bis es keinen Sinn mehr hatte, musste besonders geachtet werden. Und lange Unterhosen gab es nur in begrenzter Anzahl. All das tat unserem Spaß keinen Abbruch. Es war ein lautes Gejohle der Kinderhorde, wenn wir hinter oder neben dem „Streuwagen“ her rannten. Mitunter gönnte sich der Gemeindearbeiter auf der Pritsche auch mal eine Pause zwischendurch, drehte sich in der grobmaschigen Arbeitshose eine Zigarette und dann war erst mal „blaue Rauchpause“ angesagt.

Natürlich neigt man mit fortschreitendem Alter ein wenig dazu, Dinge ein wenig zu verklären und mit dem Mäntelchen einer gewissen Romantik zu kostümieren. Doch die alte war beileibe nicht immer die gute Zeit. Heute sitzen die Männer der Straßenverwaltung in ihren Führerhäusern, steuern ihren Drehteller digital über ein Display und sind via Internet mit dem Frühwarnsystem des Deutschen Wetterdienstes verbunden. Es ist gut so, dass die Entwicklung vorangeschritten ist und auch ich profitiere schließlich davon.

Und dennoch – so habe ich mir in dieser Woche gedacht, als ich wieder einmal froh war, hinter einem solchen blinkenden Koloss im Schneegestöber fahren zu dürfen – machen diese Leute eigentlich nichts anderes als der Gemeindearbeiter vor einem halben Jahrhundert mit der Schippe auf dem zugigen Lastwagen. Sie machen die Straßen frei. Jeder zu seiner Zeit und mit seinen Mitteln.

Ich wünsche Ihnen ein angenehmes Wochenende.

Ihr Jürgen C. Braun

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