Es musste ein Jahrhundert vergehen, ehe sich der Spirit of Ecstasy zurück in der Zukunft wähnen durfte. Jubilarin Emily, die in ihrem wechselvollen Leben als Gallionsfigur auf jedem mächtig aufragenden Kühlergrill eines Rolls-Royce den Weg voraus wies, hat extra dafür ihr Metallkleid abgelegt und trägt zu diesem Anlass eine in LED-blau leuchtende, transparente Robe. Charles Rolls hätte es gefreut, denn nach gut hundert Jahren gibt es wieder eine elektrische Superluxuslimousine, die das Doppel-R-Emblem trägt: den 102 EX. Hinter dieser spröde klingenden Kennzeichnung verbirgt sich allerdings ein Forschungsfahrzeug, das auf der Basis des Rolls-Royce Phantom die Möglichkeiten des Elekroantriebs ausloten soll für eine Marke, deren frühere Acht- und heutige Zwölfzylindertriebwerke vor allem ob ihres leisen Laufs gelobt werden.
Diesen Phantom Experimental Electric (EE) wie ihn seine Schöpfer nennen einfach als Stromer zu bezeichnen, verbietet wohl der Respekt gegenüber einem Aristokraten. Dennoch, der Kraftraum unter der aufreizend langen Haube wird nicht wie gewohnt von dem 6,75-Liter-V12-Ottomotor dominiert, sondern von zwei Elektromotoren mit einer gemeinsamen maximalen Leistung von 290 kW/394 PS und einem Akkupack mit einer rekordverdächtigen Kapazität von 71 kWh. Das E-Herz des Phantoms schlägt stark. Aber wie Werner Zagler, einer der Entwicklungsingenieure, der am Firmensitz im englischen Goodwood an diesem ökologisch gesonnenen Rolls-Royce gearbeitet hat, stolz vermerkt: „Der 102 EX ist gerade 100 Kilogramm schwerer als ein voll betankter herkömmlicher Phantom.“ Gewicht und Platzbedarf der neuen Antriebstechnologie sind bei einem viertürigen Luxusliner, der mit königlichen 2,7 Tonnen Leergewicht auf der Straße thront, zwar eher nebensächlich. Wie auch die Kosten für das alternative Antriebspaket, die jenseits der 30.000 Euro anzusiedeln sind. Wie es sich für einen Rolls-Royce gehört – und mag er auch ein rollendes Zukunftsabor sein – wurde der Antrieb aber für diese majestätischen Dimensionen maßgeschneidert.
Gut 3.000 Kilometer ohne Zwischenfälle hatte der Forschungsreisende 102 EX schon absolviert, bevor er in München einen Zwischenstopp einlegte. Bei seiner globalen Kür wurde er nicht nur Journalisten, sondern auch Markenkunden vorgestellt, denn es geht schließlich bei der Welttour auch darum, die Bereitschaft für ein E-Modell von Rolls-Royce zu testen. Wie russische Oligarchen, Hollywoods Filmmogule, chinesische Millionäre oder Scheichs von den Emiraten – um einmal die gängigen Klientel-Klischees zu bedienen – auf den 102 EX reagieren, dürfte jeweils von ihrer Neugier auf das Unerwartete abhängen.
Wenn ein Aspekt der Luxusmobilität made in Goodwood der schon legendär flüsternde Motorsound ist, dann unterläuft dieser Phantom unter Strom noch mal die vornehm bescheidenen Dezibel der Benzinmotoren. Man hört ihn schlicht nicht. Im akustisch abgedämmten Interieur vernimmt man eher noch die Abrollgeräusche – die Zukunft verlangt wohl nach noch leiseren Sohlen – oder die Klimaanlage. Irgendwann endlich erhascht das Ohr das leise antriebstypische Surren. Hätte sich der schwere Wagen nicht mit einer beeindruckenden Leichtfüßigkeit in Bewegung gesetzt und das im Vergleich zum herkömmlichen Phantom um 80 Nm höhere Drehmoment von 800 Nm bereits mit den ersten Metern angekündigt, man hätte aus der Stille den Stillstand herausgehört. Auf den ländlichen Straßen rund um den Münchener Flughafen die Beschleunigung von 0 auf 100 km/h in acht Sekunden nachzuprüfen, scheint hier ebenso wenig angemessen wie die Höchstgeschwindigkeit von 160 km/h anzupeilen. Auch der elektrifizierte Rolls-Royce ist schließlich ein Fahrzeug aus der großen britischen Raumgleiter-Manufaktur, bei dem die Andeutung durch ein leichtes Antippen des Pedals schon das Potenzial erahnen lässt.
Hat der Anblick eines Phantom an sich schon Seltenheitswert, so verfügt der 102 EX zudem über ein paar subtile Merkmale, die seinen Rang als Solitär weiter unterstreichen. Abgesehen von der Kühlerfigur und der irisierend hellblau leuchtenden Speziallackierung Atlantic Chrome besitzt der Rolls-Royce hinter dem verglasten Tankdeckel mit RR-Monogramm eine fünfpolige Steckdose, die ihn dezent als Stromfahrzeug ausweist. Eine allerdings unsichtbare Besonderheit bei der Erprobung des Elektroluxus ist die Induktionsplatte unter dem Wagenboden. Würde der 102 EX je gebaut werden, und gäbe es genauso Garagen mit dem Induktionsgegenstück mit Kabelverbindung, dann könnten Chauffeur oder Besitzer ganz bequem ohne Kabelgezerre den Stromhunger des Fahrzeugs (in mindestens acht Stunden) bedienen.
Dieser Rolls-Royce wurde im Konjunktiv gebaut. Was sein könnte, wenn man sich in Goodwood und in München bei BMW für den Strombetrieb im obersten Premiumsegment entschiede, lässt sich schon heute in seinem Innenraum überzeugend erleben. Mit hell schimmernden Karbonpanelen anstelle der edlen Holzfurniere und natürlich gegerbtem Corinova-Leder haben die Designer die E-Ästhetik interpretiert. Eingebettet in diesem buchstäblichen Greenhouse blickt man hinter das filigrane Lenkrad auf vornehm gezeichnete Anzeigen, die über Ladezustand der Batterie und den Grad der Rückgewinnung Auskunft geben. Die Schöpfer des 102 EX geben die Reichweite mit 200 Kilometern an. Unter Umständen muss sich die Noblesse hier wie auch in der Holzklasse der Elektromobilität im Verzichten lernen üben. Reichweitenstress passt nicht zu diesem Lebensgefühl.
Es wäre wirklich schade, wenn der Phantom Experimental Electric nicht gebaut würde, wirkt der 102 EX doch verblüffend seriennah. Doch die Ingenieure winken ab, sein globales Testprogramm ist kein Ersatz für Dauer- und Härtetests. Trotzdem: Diese Stille muss man gehört haben.
Text: Spot Press Services/Alexandra Felts
Fotos: Rolls Royce, SPS