Renault: Der R4 wird 40

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Auf den bürgerlichen Namen „Marie-Chantale“ tauften die Entwicklungsingenieure den kastigen Kleinwagen mit großer Klappe, weil er nach dem Willen des Renault-Chefs Pierre Dreyfus nicht schön sein durfte wie die große Schwester Dauphine, sondern in pragmatischer Formensprache und unter der nüchternen Bezeichnung R4 eine noch nie da gewesene Revolution unter den Volksautos auslösen sollte.

Tatsächlich veränderte der R4 mit großer Heckklappe, vier Türen, Hochdachkarosserie, Frontantrieb, Einzelradaufhängung und Komfortfederung vor genau einem halben Jahrhundert die Marke Renault ebenso wie die gesamte Kleinwagenwelt. Kein Wunder, dass der Revoluzzer ebenso zu einem Symbol der 1968er Generation wurde wie der Citroën 2 CV. Citroën-Chef Pierre Bercot führte sogar über zwei Jahre einen Plagiatsprozess gegen Renault, allerdings vergeblich. Derweil bahnte der R4 den kleinen Familienautos der modernen Kompaktklasse den Weg. Ohne den Charme des schicken Mini, die Langlebigkeit des VW Käfer oder die Lässigkeit der Citroën „Ente“, dafür aber mit besonders viel französischem Flair und zeitloser Funktionalität wurden bis 1992 über acht Millionen Renault 4 als Limousine und Lieferwagen Fourgonnette ausgeliefert, davon allein über 900.000 in Deutschland.

Als Nachfolger des auch in Deutschland beliebten Heckmotormodells Renault 4 CV feierte der R4 sein Weltdebüt auf der IAA in Frankfurt 1961 – und stand als erste Importpremiere überhaupt im Mittelpunkt der damals bereits weltweit bedeutendsten Automesse. Nicht einmal die zeitgleich enthüllte „Neue Klasse“ von BMW konnte dem unkonventionellen kleinen Franzosen die Sensation nehmen. Die ebenso praktische wie bequeme Limousine mit dem steilen Schrägheck und wassergekühltem 0,75-Liter-Vierzylinder-Frontmotor setzte jene Zeichen in die noch dominierende Heckmotorklasse, die in die Zukunft deuteten, aber hierzulande auch extreme Reaktionen provozierten. „Dieses Auto wird sich in Deutschland niemals verkaufen lassen“, resümierten Testberichte – und lagen damit zunächst nicht ganz falsch. Denn anders als in Frankreich verlief der Start des R4 in der Heimat des Käfers sehr verhalten, das Konzept des Renault 4 war den Deutschen noch zu avantgardistisch. Erst Ende der 60er Jahre begeisterte der R4 jugendliche Protestler, cordsamtene Professoren, Individualisten und junge Familien auch östliche des Rheins so sehr, dass er in Deutschland sensationelle vier Prozent Marktanteil und 86.000 Zulassungen in einem Jahr feiern konnte. Der vom R4 getragene Aufschwung lässt den Zulassungsanteil von Renault in Deutschland bis 1970 auf über sieben Prozent klettern, nicht wesentlich weniger als etwa Opel im vergangenen Jahr erzielte.

Ganz anders in Frankreich. Hier feierte der Renault mit Revolverschaltung, Dreiganggetriebe, frugalen Stahl-Rohrrahmensitzen und variablem Innenraum ein glanzvolles Debüt mit Galavorstellungen im Palais de Chaillot und unter dem Eiffelturm in Paris. Dies gleich in mehreren Versionen: Als R4, R4 L und R4 Super mit drei Seitenscheiben, als minimal ausgestatteter Renault 3 mit winzigem 0,6-Liter-Motor (der allerdings nicht nach Deutschland kam) und als Kombi und Kastenwagen Fourgonnette. Damit nicht genug, der kleinste Renault war auch eines der ersten Volumenmodelle, das auf einem Baukastensystem mit Plattformstrategie basierte. Die Karosserie war mit dem Rahmen verschraubt, deshalb ließen sich schnell und kostengünstig weitere Versionen realisieren. So standen ab 1964 der Sinpar 4×4 mit Allradantrieb und ein Pickup im Angebot, 1969 folgte der Plein Air als offenes Strand- und Spaßauto ohne Türen und ein Jahr später der Rodeo mit eigenständiger Kunststoffkarosserie als Jagd- und Freizeitwagen.

Optisch und technisch veränderte sich die Renault 4 Limousine dagegen während der 31jährigen Produktionszeit kaum. Nur immer neue Farben, modische Sondermodelle, minimale Leistungs- und Ausstattungsmodifikationen sowie die wachsende Zahl der Produktionsstandorte in zuletzt insgesamt 16 Ländern auf drei Kontinenten kündeten wie Jahresringe vom Wechsel der Dekaden. Den Auftakt des Sondermodellreigens machte im Frühjahr 1963 der „Parisienne“, dessen Karosserieseiten mit damals schickem Rohrgeflecht- oder Schottenmuster verziert waren und der die Herzen fast aller Frauen eroberte. Noch erfolgreicher war der 1976 eingeführte Renault 4 „Safari“ in bunten Lackierungen und mit Sitzen im Stil einer Hängematte. Auch sein Finale feierte das Kultmodell mit Sondermodellen: Im Dezember 1988 in Deutschland mit dem Renault 4 „Salü“ – den letzten verkauften Renault 4 GTL erwarb Fernsehstar Günter Jauch – und vier Jahre später in Frankreich mit der Edition „Bye-bye“.

Nahezu einzigartig war die geniale Lösung des sogenannten Front-Mittelmotor-Prinzips beim Renault 4: Der Vierzylinder-Reihenmotor wurde zugunsten einer optimalen Gewichtsverteilung und entsprechend unproblematischer Fahreigenschaften weit in Richtung Wagenmitte nach hinten verschoben. Zusammen mit einer geradezu legendären Zuverlässigkeit war dies sogar die Basis für verblüffende Motorsporterfolge des eigentlich völlig unathletischen und untermotorisierten R4, der auf Autobahnen gerade einmal 110 bis 120 km/h schnell war. Sein Rennsport-Debüt gab der Kleinwagen 1962 bei der Rallye Monte Carlo und bei der „East African Safari“, wo er nach 12.000 Kilometern immerhin als Fünfter seiner Klasse die Ziellinie passierte.

Einen ganz besonderen sportlichen Triumph errang der Renault 17 Jahre später beim Wüstenmarathon Paris-Dakar. Mit einem allradgetriebenen R4 Sinpar ereichten die Brüder Bernhard und Claude Marreau hinter einem reinrassigen Geländeboliden als Zweite der Automobilwertung den „Lac Rose“, das Ziel der 9.000-Kilometer-Tortour. Im Jahr darauf gelang den Marreaus mit einem auf fast 130 PS erstarkten R4 erneut ein sehr gutes Resultat bei der Dakar-Rallye: der dritte Platz der Autowertung. Den Abschied aus der internationalen Motorsportszene feierte der kleine Franzose erst im Jahr 2000. Bei zahlreichen Läufen der Rallye-WM fuhren die Portugiesen Antonio Pinto dos Santos und Rodriguez da Silva mit ihrem seriennahen Gruppe N-R4 GTL in die Herzen aller Fans. Obwohl ihr Oldie zuletzt schon 180.000 Kilometer auf dem Zähler hatte, belegten sie fast immer Plätze in der vorderen Hälfte des Teilnehmerfelds. Ein Abschied, der ebenso unvergleichlich war wie der ultimative Zuverlässigkeitstest, den der kompakte Franzose schon kurz nach dem Produktionsstart bewältigt hatte.

1962 kämpften sich die beiden Neuseeländer Adrian Blackburn und Bill Rowntree bei ihrer Tour Sidney-Paris durch Dschungel, Flüsse, Wüsten und unwirtliche Gebirge in 26 Ländern und über eine Distanz von 43.000 Kilometern. Außer 40 platten Reifen vermerkte das Team keine einzige ernst zu nehmende Panne in seinem Fahrtenbuch, nicht nur für damalige Automobile ein rekordverdächtiges Ergebnis. Und der Beginn für eine einzigartige globale Erfolgsgeschichte. Der Renault 4 eroberte nun die Pisten der Welt wie kein zweiter Straßen-Pkw. Zunächst mit weiteren Expeditions- und Zuverlässigkeitsfahrten wie einer 13.000-Kilometer-Tour durch die südamerikanischen Anden (1962), einer Expedition von Feuerland nach Alaska (1965) mit Anstiegen bis auf 5.200 Höhenmeter, einer 30.000-Kilometer-Durchquerung des afrikanischen Kontinents (1968) und ab 1966 mit dem von Renault gesponserten Reiseprojekt „Routes du Monde“ (Straßen der Welt) für junge Leute. Dabei reichten alljährlich 150 bis 200 Kandidaten ihre Reisepläne ein, von denen Renault jeweils bis zu acht Expeditionen mit der Bereitstellung eines Renault 4 unterstützte.

Auch im Alltagseinsatz zählte der Franzose zu den technisch fast unzerstörbaren Dauerläufern, so wurden die Wartungsintervalle für die große Inspektion zuletzt auf 50.000 Kilometer oder drei Jahre erweitert. In Ländern wie Deutschland hatte der R4 allerdings einen Feind, der besonders nach Wintern mit üppiger Streusalzverteilung Antriebswellen, Karosserie und Rahmen schneller den Garaus bereitete als manche Werkstätten schweißen und reparieren konnten. Da konnten auch die großzügigen Garantieleistungen des Staatskonzerns wenig helfen, so manches Exemplar des Multi-Millionenerfolgs musste noch vor der zweiten Hauptuntersuchung geschweißt werden. Dies war zugleich die Hauptursache für das rasche Aussterben des Mutiltalents nach dem Produktionsauslauf 1992. Heute ist der kleine Franzose so selten und gesucht wie mancher exklusive Supersportwagen. Damit teilt der Gallier mit der revolutionär großen Heckklappe das Schicksal nicht weniger Revolutionsführer: Erst mobilisierten sie die Massen, dann verschwanden sie aus dem Alltagsleben, schließlich wurden sie Mythos und Legende.

Text: Spot Press Services/Wolfram Nickel
Fotos: Renault

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