CD-Tipp – Westernhagen: Das Pfefferminz-Experiment

Unter der Dusche von Strahl zu Strahl springen zu müssen, um nass zu werden, sei ja wohl auch nicht das Wahre. Schrieb ein Leser an eine Zeitungsredaktion. Vorausgegangen war ein Artikel über Marius Müller-Westernhagen.

Man schrieb das Jahr 1978 und stellte sich unter einem solchen Doppelnamen sowas wie einen Studienrat für Deutsch und Geschichte vor. Tatsächlich aber stand ein junger Mann dahinter, der bis dato mit Achtungserfolgen auf drei Langspielplatten auf sich aufmerksam gemacht hatte. Und der jetzt mit dem simplen Titel „Dicke“ ein großes Publikum fand – und spaltete. Diskriminierung, wetterten die einen. Andere äußerten ihre Kritik ironisch, wie eben durch die Geschichte mit dem Strahl. Die wenigsten im Publikum freilich dürften den Text als Schulterschluss mit allen Übergewichtigen verstanden haben, als beißende Kritik am damals schon grassierenden Schlankheitswahn.

Das Album zum umstrittenen Song hieß „Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz“, heute ein geflügeltes Wort der deutschen Umgangssprache. Und die Lieder handelten von Menschen, die allesamt nicht so viel Grund zum Jubeln hatten: Da war die junge Frau, die ihrem, pardon, Luden nicht genug Umsatz beibrachte. Da war der Mann, der einen anderen Mann verließ und schon eine neue Liebe gefunden hatte. Der Trost Suchende im Alkohol … und … und … und … Der Erfolg war ihm sicher. Und das in einer Zeit, als es Vergleichbares, wenn überhaupt, von Udo Lindenberg gab.

40 Jahre später hat Westernhagen, wie er sich seit Jahrzehnten verkürzt nennt, die Songs neu eingespielt. In New York, in einer Kirche in (ja, tatsächlich!) Woodstock. Da, wo er, anders als hier, ein Unbekannter ist. Die Songs sind wesentlich sparsamer instrumentiert als früher, dadurch steht die Stimme des inzwischen fast 71-Jährigen im Vordergrund. Im Vergleich zu 1978 hat er auch Tempo rausgenommen. Im Ergebnis klingt das alles nicht besser, sondern anders. Beide Alben, denen dasselbe Material zugrunde liegt, sind tatsächlich nicht vergleichbar.

Sicher aber ist: Westernhagen zeigt sich mit den vermeintlich „alten“ Songs auf der Höhe der Zeit. Die Menschen, um die es in seinen Texten geht, gibt es immer noch. Ausgerechnet „Dicke“ allerdings wird man, und das ist dem gereiften Interpreten zu danken, jetzt eher als Solidaritätssong mit den Genannten deuten. Und eine Kritik daran würde man heute eher auf einer Webseite als in der Leserbrief-Rubrik einer Zeitung finden. Aber das ist ja kein sooo großer Unterschied.

Westernhagen: Woodstock Recordings, Vol. 1 – Das Pfefferminz-Experiment. (Polydor)

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