Renault: 100 Jahre Grand-Prix-Siege

Beitragsbild
Foto 1
Foto 2
Foto 3

Vor 100 Jahren, am 27. Juni 1906, gewann Renault den ersten Grand Prix der Welt. Mit dem Triumph beim Großen Preis von Frankreich legte die Marke den Grundstein für eine bis heute andauernde Erfolgsgeschichte und schrieb gleichzeitig Motorsporthistorie: Das Rennen ging als erster Grand Prix und damit als Vorläufer der heutigen Formel-1-Läufe in die Geschichte ein. Siegerwagen war ein 66 kW/90 PS starker Zweisitzer mit 13 Litern Hubraum und der damals sagenhaften Höchstgeschwindigkeit von 154 km/h, gesteuert vom Ungarn Ferenc Szisz. Zum Vergleich: Die aktuellen Dienstwagen von Fernando Alonso und Giancarlo Fisichella vom Typ R26 mobilisieren über 700 PS aus 2,4 Litern Hubraum und sind weit über 300 km/h schnell. Motor und Aufbauten des Grand-Prix-Wagens ruhten konventionell auf einem genieteten Stahlrahmen. Als Weltneuheit im Rennwagenbau setzte Renault 1906 auf dem Sarthe-Ring hydraulische Stoßdämpfer ein. Der Zeit weit voraus war auch die Kraftübertragung an die Hinterachse per Dreiganggetriebe und Kardanwelle. Gängiger Stand der Technik war 1906 noch die Antriebskette. Heute undenkbar: Bremsen besaß der Renault nur an den Hinterrädern. Bremswege sind nicht überliefert. Wegen der mit 1.090 Millimetern sehr schmalen Spurbreite hinten und der Streckencharakteristik mit langen Geraden und nur wenigen Kurven verzichtete Renault auf das Differenzial. Auf diese Weise ließ sich wertvolles Gewicht sparen. Mit 990 Kilogramm lag der Grand-Prix-Renner klar unter der vorgegebenen Höchstgrenze, war aber im Vergleich zum R26 des Jahres 2006 ein Schwergewicht.

Sein Nachfahre bringt dank Kohlefaserchassis und Leichtmetallmotor inklusive Fahrer, TV-Kamera und Ausgleichsgewicht nur 605 Kilogramm auf die Waage. Davon entfallen allein 95 Kilogramm auf das Triebwerk. Beim Motor hatten die Konstrukteure völlig freie Hand. Folge war ein Teilnehmerfeld mit dem Hubraumspektrum von 7,4 bis 18,3 Liter. Mit exakt 12.986 Kubikzentimetern war der Renault Motor nur Mittelmaß, würde aber heute manchem Lkw Ehre machen. Seine Maximalleistung von 66 kW/90 PS erreichte der aus zwei Blöcken bestehende Vierzylinder bereits bei 1.200 1/min. Im Vergleich dazu kommt der Achtzylinder des aktuellen Renault Formel-1-Boliden aus einer anderen Welt: Sein Hubraum von 2,4 Litern ist deutlich niedriger als das Hubvolumen eines Einzelzylinders beim Grand-Prix-Fahrzeug von 1906. Dafür erreicht das komplett aus Leichtmetall gefertigte Triebwerk Drehzahlen jenseits der 19.000 1/min und setzt über 700 PS frei. Weitere Kennzeichen des gusseisernen Giganten waren nichtabnehmbare Zylinderköpfe, mechanisch gesteuerte, seitliche Ventile und eine Hochspannungs-Magnetzündung von Bosch, damals ein absoluter technischer Leckerbissen selbst für Grand-Prix-Wagen. Für eine bessere Aerodynamik rückte Renault die voluminöse Wasserkühlung hinter den Motor in die Wagenmitte – eine Konfiguration, die eine flachere Frontpartie erlaubte. Weniger Luftwiderstand sollte auch die niedrigere Sitzposition des Beifahrers bringen. Mehr aerodynamische Effizienz war 1906 noch nicht drin. Heute läuft der Windkanal in Enstone, dem britischen Kompetenzzentrum des Renault-F1-Teams, 24 Stunden am Tag. Die ersten Strömungstests für Chassiskomponenten des R26 begannen bereits im Februar 2005, über ein Jahr vor dem ersten Einsatz. Auch während der Saison feilen die Entwickler laufend an der Aerodynamik des Boliden.

Mit dem Grand Prix des Automobile Club de France (A.C.F.) trat erstmals im Motorsport eine verbindliche Fahrzeugformel in Kraft. Anders als das sehr eng gefasste Regelwerk von heute war sie äußerst großzügig gehalten und beschränkte sich auf drei Punkte: Das Fahrzeuggewicht durfte 1.000 Kilogramm nicht überschreiten – Kotflügel, Polsterung, Hupe, Beleuchtung und Werkzeugkasten nicht mitgerechnet. Jede Herstellerfirma konnte mit höchstens drei Fahrern anreisen. Der Wechsel von Fahrer und Beifahrer war unzulässig.

Der Große Preis von Frankreich unterschied sich grundlegend von den bisherigen Städterennen: Schauplatz war ein 103,18 Kilometer langer Dreieckskurs über öffentliche Straßen in der Nähe von Le Mans. Die Stadt sollte später zu einem festen Begriff im Automobilsport werden. Mit der Strecke des späteren 24-Stunden-Rennens hatte der Sarthe-Ring jedoch nur den Namen gemeinsam. Um das Ardennen-Rennen in Belgien und die Targa Florio auf Sizilien zu übertrumpfen, wurde der Grand Prix über zwölf Runden ausgeschrieben und auf zwei Tage gestreckt.

Pro Renntag mussten die Teilnehmer sechs Runden zurücklegen, insgesamt 1.248 Kilometer. Zum Vergleich: Ein Formel-1-Rennen des Jahres 2006 dauert höchstens zwei Stunden. Als Maximaldistanz sieht das aktuelle Reglement 305 Kilometer vor, zuzüglich jener Strecke, die zur Beendigung der letzten Runde erforderlich ist. Nachts standen die Autos auf einem streng bewachten und beleuchteten Parkplatz. Heute nennt sich die entsprechende Einrichtung in der Fachsprache Parc Fermé. Wichtig für den Rennausgang sollte eine technische Innovation werden: Die abnehmbaren Radfelgen von Michelin. Renault nutzte das System vorerst nur für die Hinterräder. Der Vorteil: Während die anderen Rennfahrer vor dem Reifenwechsel mühevoll mit einem Messer die heißen Gummireste von den Felgen kratzen mussten, tauschten der gut trainierte Ferenc Szisz und sein Beifahrer die hölzernen Kompletträder in kaum vier Minuten aus. Der Zeitgewinn wog sogar den Gewichtsnachteil gegenüber Drahtspeichenrädern von neun Kilogramm pro Stück auf.

Die neue Technik machte Reifen und Reifenwechsel bereits 1906 zu einem rennentscheidenden Faktor. Auch beim Einstieg in die Formel 1 im Jahr 1977 mit dem legendären Turbo RS01 startete Renault auf Michelin Slicks. Als Renault 2002 sein Engagement als Werksteam erneuerte, hieß der Reifenpartner erneut Michelin.

Bemerkenswert beim Grand-Prix-Modell von 1906 war außerdem, dass der mitfahrende Mechaniker über mehr Komfort verfügte als seine Kollegen in den Konkurrenzfahrzeugen. Dies trug dazu bei, dass er seine wichtigen Aufgaben besser erledigen konnte.
Renault reiste mit drei Wagen zum Grand Prix des A.C.F.. Trotz der wegweisenden Neuheiten gehörte die Equipe nicht zu den heißen Favoriten, denn mit Fiat und Clement-Bayard gab es deutlich stärkere Fahrzeuge im Feld. Insgesamt waren 32 Wagen von zwölf Teams am Start. Der Rennverlauf sollte jedoch zeigen, dass es auf das Gesamtpaket Auto-Räder-Fahrer ankommt, und hier hatte Renault mit Ferenc Szisz einen ähnlichen Könner aufgeboten wie 100 Jahre später mit Fernando Alonso. Der 1873 geborene Ungar Szisz hatte bereits eine Karriere vom Schlosser zum Ingenieur hinter sich. Seit 1900 war er bei Renault unter Vertrag, wo die Brüder Louis und Marcel Renault schnell sein fahrerisches Talent erkannten und ihn zum Leiter der Testabteilung machten. 1902 war er Beifahrer von Louis Renault beim Rennen Paris-Wien. Ab 1905 fuhr er auch erfolgreich Rennen für das Unternehmen.

Bei tropischen Temperaturen von über 40 Grad Celsius entwickelte sich das Rennen zur extremen Belastungsprobe für Mensch und Material. Anteil daran hatte auch der eigens für den Grand Prix aufgebrachte Streckenbelag, bestehend aus einem Vorläufer der heutigen Asphaltmischungen. Der von den Fahrzeugen aufgewirbelte schmelzende Teer verursachte bei zahlreichen Fahrern schwere Verbrennungen. Auch der Renault Pilot J. Edmond musste das Rennen mit Brandverletzungen am Auge vorzeitig beenden. Der materialschonend fahrende Szisz übernahm bereits nach dem ersten Reifenwechsel in der dritten Runde die Führung und fuhr bis zum Ende des ersten Renntages einen komfortablen Vorsprung von 26 Minuten heraus.

Am frühen Morgen des 27. Juni nahmen die Teilnehmer im zeitlichen Abstand ihrer Zielankunft das Rennen wieder auf. Kaum aus dem Parc Fermé auf die Strecke zurückgekehrt, fuhr Rennstratege Szisz sofort zum Reifen wechseln an den Straßenrand. Als er wieder Gas gab, hatte er noch immer einen Vorsprung von 14.30 Minuten auf den Zweiten, Albert Clement, der weiter auf seine Startfreigabe wartete. Bei ähnlichen Bedingungen wie am Vortag erwies sich Szisz' besonnene Fahrweise erneut als das richtige Rezept. Mit einer Spitzengeschwindigkeit von 154 km/h war er trotzdem der Schnellste im Feld. Selbst der Bruch einer Hinterachsfeder in der vierten Runde hielt den Ungarn nicht auf. Nach 12:14.07 Stunden überquerte der Renault Fahrer als erster die Ziellinie, 32 Minuten vor dem Zweitplatzierten. Seine Durchschnittsgeschwindigkeit: 101,19 km/h, für die damalige Zeit eine Sensation.Als Renault zum Grand Prix des A.C.F. antrat, hatte sich der Hersteller bereits als feste Größe im Motorsport etabliert – nicht zuletzt dank der fahrerischen Qualitäten von Louis und Marcel Renault: Die Brüder und Unternehmensgründer hatten eine Reihe prestigeträchtiger Rennen gewonnen, zunächst von Paris ins Seebad Trouville an der Kanalküste (1899), dann Paris-Berlin (1901) und schließlich Paris-Wien (1902). Die Einsätze brachten der Marke wichtiges technisches Know-how und großes Renommee, weshalb Louis Renault auch nach dem tödlichen Unfall seines Bruders Marcel beim Rennen Paris-Madrid 1903 das Engagement im Motorsport fortsetzte. Allerdings setzte sich der Patron nicht mehr persönlich ans Steuer seiner Rennwagen.

Sein Sieg brachte Szisz nicht nur 45.000 Francs Preisgeld ein, sondern machte ihn in Frankreich über Nacht zum Star, dessen Konterfei auf Plakaten und Postkarten prangte. 1907 fuhr er erneut für Renault den Großen Preis von Frankreich und errang Platz zwei. 1908 zog sich Szisz vom Rennsport zurück, feierte indes 1914 ein kurzes Comeback, das aber jäh gestoppt wurde: Als er beim letzten Grand Prix des A.C.F. vor dem Ersten Weltkrieg ein Rad wechseln musste, wurde er von einem Gegner gerammt und brach sich den Arm. In den Zwanziger Jahren arbeitete der inzwischen Franzose gewordene Szisz bei einem Flugzeughersteller. 1944 starb der Ex-Champion im Alter von 71 Jahren in Auffargis bei Paris, wo er auch begraben liegt. In den Fünfziger Jahren sorgte in Ungarn noch einmal ein falscher Ferenc Szisz für Aufsehen, der sich für den Grand-Prix-Sieger ausgab und dabei so überzeugend war, dass er selbst viele Experten täuschte.

Nach oben scrollen