Sommer 1954: Staub. Die Hitze des Motors. Unerbittliche Konzentration über mehr als elf Stunden. Die engen Kehren am Futa-Pass bei Bologna, das holprige Pflaster in den Städten, die Geraden in der Lombardei mit ausgedrehtem viertem Gang und Tempo 250 km/h – ein ständiger Wechsel der Anforderungen, über 1.600 Kilometer Strecke. Von den 20er bis in die 50er Jahre war die Mille Miglia das berühmteste Straßenrennen der Welt. Gewonnen hat sie vor genau 50 Jahren ein Rennwagen von Lancia, der D 24 Spider mit Alberto Ascari am Steuer. Dieses legendäre Fahrzeug kommt jetzt erneut zum Einsatz. Anlass ist das runde Jubiläum bei der Mille-Miglia-Neuauflage.
Das Unternehmen aus Turin befand sich zu Beginn der 50er Jahre auf einem steilen Höhenflug. Gianni Lancia hatte 1948 die Nachfolge seines elf Jahre zuvor verstorbenen Vaters Vincenzo angetreten. Der neue Chef war ein enthusiastischer Motorsport-Fan und träumte von Triumphen im ganz großen Sport. Die Mille 1954, die vom 30. April auf den 1. Mai stattfand, führte zwar wie immer von Brescia über Rom in die Lombardei zurück, verlief aber über einen leicht abgeänderten Kurs – zu Ehren des verstorbenen Tazio Nuvolari bezog er dessen Heimatstadt Mantua ein. Neu war auch das Reglement. Erstmals war kein Beifahrer mehr vorgeschrieben. Alle Experten erwarteten einen Zweikampf zwischen den vier Ferrari mit ihren mächtigen Fünfliter-V-12 und den vier Lancia D 24. Das Turiner Team hatte Castellotti, Taruffi, Gino Valenzano und als Starfahrer den Ex-Ferrari-Piloten Alberto Ascari verpflichtet.
Der zweimalige Weltmeister wirkte vor dem Start überaus nervös. Er war kein Freund von Straßenrennen, er hatte aus ganz persönlichen Gründen zugesagt: Ursprünglich hatte sein Freund Luigi Villoresi antreten sollen, der aber hatte sich bei einem Unfall schwer verletzt. Und dann entwickelte sich für den Piloten aus Mailand noch eine schier unglaubliche Pechsträhne: Ein Tankwart goss versehentlich Benzin in den Öltank seines Wagens. Bei einem Roll-Out danach war Ascari vom Handling seines B 24 so wenig überzeugt, dass er darauf beharrte, in den Ersatzwagen umzusteigen. Der wiederum wurde wenige Stunden vor dem Start von einem Lkw demoliert – die Mechaniker reparierten das Heck in Rekordzeit, und Ascari konnte rechtzeitig zum Start in der Viale Rebuffone rollen.
Auch der D 24 war kein hundertprozentig standfestes Rennauto; sein größtes Manko war der hohe Öldurst, der auf Probleme mit der neuen Trockensumpfschmierung zurückging. Er wurde Valenzano zum Verhängnis: Von der rapide fallenden Druckanzeige für einen Moment abgelenkt, kam er in einer Kurve nahe Pescara von der Strecke ab und überschlug sich mehrfach. Castellotti schied mit Motorschaden aus, und Taruffi, der vom Start weg über weite Strecken in Führung gelegen hatte, geriet unweit von Florenz von der Straße, als ihn ein anderes Fahrzeug blockierte – der Lancia-Stab, der in Iseo bei Brescia Quartier bezogen hatte, musste drei Hiobsbotschaften hinnehmen. Den großen Ferrari aber erging es noch schlimmer – keiner von ihnen beendete das Rennen. Insgesamt fielen 99 der 374 gestarteten Autos aus.
Der Sieger hieß am Ende Alberto Ascari mit der Startnummer 602. Nach über 1.600 Kilometern und einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 139,645 km/h erreichte er das Ziel in Brescia mit 34 Minuten Vorsprung auf den Zweiten, einen Zweiliter-Ferrari – obwohl ihm das Pech treu geblieben war, in Form des Bruchs einer Drosselklappen-Rückholfeder. Als Ersatz musste das Strumpfband einer Zuschauerin herhalten; die Notreparatur gelang. Eine weitere dramatische Fußnote schrieb Porsche-Werksfahrer Hans Herrmann in die Chronik dieses Rennens: Kurz nach dem Start schoss er im allerletzten Moment über einen Bahnübergang, unter der schon beinahe gesenkten Schranke hindurch und knapp vor der Lok des herandonnernden Zugs.
Die Laufbahn des D 24 klang mit drei Siegen bei italienischen Rennen im Herbst 1954 aus.Von den neun gebauten D 24 haben, soweit bekannt, zwei Autos überlebt. Eines von ihnen steht in der Lancia-Sammlung in Turin. Das andere hatte Lancia 1955 dem argentinischen Präsidenten Perón geschenkt; es ist nach Europa zurückgekehrt und nimmt gelegentlich an Oldtimer-Rennen teil.