Jürgen C. Brauns Tagebuch
Der Start zu einer jeden Tour de France hat so seine (kulinarischen) Reize. Vor allem dann, wenn das Tageswerk vollbracht ist, und der gestresste Berichterstatter sich zum abendlichen Repos zurück zieht. Durften wir uns vor zwei Jahren beim Start an der Atlantik-Küste an frischen Austern ergötzen, so waren es im vergangenen Jahr rund um Strassburg immerhin noch elsässische Spezialitäten, die ja auch nicht zu verachten sind. Dass der Auftakt zur 94. Auflage der Großen Schleife in diesem Jahr in London statt fand, verhieß zunächst wenig Verheißungsvolles für unsere Geschmacksnerven. Fish'n Chips entspringen nun einmal nicht dem Reich des Lukullus, und einer bisher unwiderlegten Mär zufolge, war die Entstehung des englischen Commonwealth seinerzeit nur der Tatsache zu verdanken, dass dessen Begründer vor den Erzeugnissen der englischen Küche in alle Welt flohen.
Nun, mittlerweile ist derlei Gram nicht mehr angesagt. Das liebliche Burgund hat uns empfangen und lockt mit Vorzüglichem aus Keller und Küche. Dann, wenn die Arbeit getan ist, versteht sich und die Eindrücke der Etappe zu Papier – pardon zu Laptop – gebracht wurden. Die Verbindung des weltweit größten Sportereignisses unter freiem Himmel zur Auto-Industrie wurde in diesem Jahr nicht nur durch die nicht zu übersehenden Hinweise auf einen der Hauptsponsoren, nämlich die tschechische VW-Tochter Škoda, offensichtlich. In der Caravane publicitaire, dem bunten Werbe-Lindwurm, der sich Tag für Tag vor dem Feld über Frankreichs Straßen bewegt, waren in diesem Jahr auch zwei Reifenhersteller zu sehen, die sich bis dato bei der Tour nicht gezeigt hatten. Klebèr und Eurotyres machten in ebenso lautstarken wie bunten Fahrzeugen auf ihre Erzeugnisse aufmerksam. Eingerahmt von X-Tra, das ist so eine Art französischer Meister Proper und Grand Mère, der französischen Kaffee-Oma, die an Bekanntheitsgraden sogar die Sozi-Lokomotive Segoline Royale in den Schatten stellt.
Das Thema Unterkunft ist eines der schwierigsten bei der Vorbereitung einer jeden Tour. Meist sind im Umkreis von mindestens 50 Kilometer um den Zielort keine Betten mehr zu bekommen, nicht einmal solche, die unter das Prädikat Besenkammer fallen. Aus selbigem Grunde ist die Ankunft in der vor Monaten gebuchten Herberge auch stets ein mit Spannung erwarteter Moment. Des Grauens oder der freudigen Überraschung. Gefragt sind dabei von unserem Dreier-Team immer wieder Improvisationskunst und die Fähigkeit, visuelle Eindrücke einfach zu negieren. So etwa, als wir zu später Abendstunde unser liebliches Heim knapp 45 Kilometer unweit des Etappen-Ortes Joigny in Augenschein nahmen. Leider gab es nur noch einen einzigen Raum mit einem überdimensionalen Bett für drei Personen. Zunächst waren wir uns nicht ganz sicher: Stellen wir die Taschen in das Zimmer, oder das Zimmer in die Taschen? Meine zunächst geäußerte Anregung, Amnesty International angesichts der Ausmaße des Zimmers einzuschalten, wurde dann mit Hinweis auf die fortgeschrittene Tageszeit doch fallen gelassen.
Statt dessen beschlossen wir, das Zimmer unter Zuhilfenahme der Erzeugnisse burgundischer Rebstöcke in unserem Wahrnehmungsempfinden dergestalt zu verändern, dass es sich einigermaßen akzeptablen Dimensionen zumindest en Detail näherte. Oder, um es etwas profaner auszudrücken: Mit einer Flasche guten Burgunders im Bauch ist es Dir so ziemlich sch… egal, ob Du morgens beim Aufstehen an die Schräge der Dachkante, die Türklinke oder das Knie eines Deiner Kollegen stößt. Wahre Größe äußert sich eben nicht in (Zenti)metern.
In diesem Sinne, bis zu nächsten Mal, Ihr Jürgen C. Braun