Er passte perfekt in eine Zeit, die aus den gewohnten Fugen geraten war. Der vor einem halben Jahrhundert vorgestellte „kleine Mercedes“ – von allen Fans nur Strich-Acht genannt – war ein echter 68er, denn er brach gesellschaftliche Tabus. Und er kam damit sogar Willy Brandt zuvor, der 1969 in seiner Regierungserklärung sagte: „Wir wollen mehr Demokratie wagen“. Genau das gelang den vom Kultdesigner Paul Bracq in unvergänglich schlichter Eleganz gezeichneten Typen 200 D bis 280 E in der automobilen Premiumklasse. Statt auf Protz und Prunk wie die abgelösten großen Heckflossenmodelle setzten die neuen, nur 4,68 Meter langen Mittelklasselimousinen auf Luxus für ein Millionenpublikum durch konkurrenzlose Typenvielfalt und innere Werte.
Dazu zählten die hintere Einzelradaufhängung an Schräglenkern und die wartungsfreie Vorderradaufhängung an doppelten Querlenkern ebenso wie Motoren für jeden Anspruch. Taxifahrer und Landwirte schworen auf den fast unzerstörbaren 40 kW/55 PS Diesel im 200 D – bevor dieser im Alter zum beliebten studentischen Fortbewegungsmittel avancierte und neben Renault R4 oder Citröen 2 CV vor der Mensa wartete. Konzernchefs und die Politprominenz präferierten dagegen die souveräne, aber äußerlich dezent verpackte Kraft des über 200 km/h schnellen Sechszylindertyps 280 E, der es leicht mit Oberklasse-Repräsentanten wie Opel Diplomat V8 oder den BMW Sechszylindern aufnehmen konnte.
Die Welt war 1968 im Rausch raketenschneller Veränderungen. In der Apollo 8 schossen Astronauten um den Mond, Stanley Kubricks Filmepos „Odyssee im Weltraum“ wagte einen Blick ins 21. Jahrhundert, die Generation der Baby-Boomer brach mit gesellschaftlichen Konventionen und die automobile Mittelklasse demokratisierte Leistung und Luxus. Was zaghaft mit den Sechszylindern Opel Commodore GS/E und Ford 20 M TS begonnen hatte, kulminierte nun im Mercedes Strich-Acht. Motoren mit bis zu 136 kW/185 PS, das gab es bis dahin nur bei Sportwagen und in der starken Oberklasse. Entsprechend groß war die Sensation, als ausgerechnet die Stuttgarter Marke für das Besitzbürgertum in ihrer mittleren Baureihe in Einheitsform alle Ansprüche bediente, vom Knauser-Diesel bis zum Sechsender. Nicht zu vergessen das 110 kW/150 PS leistende Hardtop-Coupé 250 CE als erster Mercedes mit wegweisender elektronisch gesteuerter Einspritzanlage.
Ursprünglich sollte sich die Fahrzeugfront der intern W 114 und W 115 genannten Typen unterscheiden. Während für die Vierzylinder quer liegende Rechteckscheinwerfer vorgesehen waren, sollten die Sechszylinder mit vertikalen Leuchten im Stil des Pagodendach-SL die Überholspur frei räumen. Stattdessen frönten in der Serienversion selbst die teuren 280er – als Coupé fast so kostspielig wie ein Porsche 911 – ganz dem Understatement. Nur winzigste Details wie die Stoßstangenlänge verrieten die Spitzenaggregate. Keinen Neid und keine soziale Missgunst wecken, diese in den 1970er Jahren angesagten gesellschaftlichen Tugenden erfüllte der Strich-Acht-Mercedes so vorbildlich, dass seine Vorreiterrolle noch 1974 bei der Pressevorstellung des Jaguar XJ 12 Erwähnung fand, denn der majestätische britische Zwölfzylinder trug fast die gleichen Kleider wie seine profanen Sechszylinder-Geschwister.
Mit diesem Modellprogramm im Einheitslook, in der Fachpresse mit Bezug auf die politischen Veränderungen „stilistischer Linksruck“ genannt, traf Mercedes den Zeitgeist ins Herz. Der Strich-Acht prägte die Vor-VW-Golf-Generation und erreichte bis Ende 1976 fast zwei Millionen Zulassungen, mehr als bis dahin alle anderen Nachkriegs-Mercedes zusammen. Die größte Sensation gelang dem Bestseller ausgerechnet während der ersten Ölkrise, als der Benz den VW Käfer vom Thron stieß und zum neuen deutschen Verkaufschampion gekürt wurde. Nicht einmal der brandneue Golf konnte anfangs den inzwischen angejahrten, aber durch regelmäßige Modellpflegen attraktiv gehaltenen Sternträger in Bedrängnis bringen. Auch das konkurrenzlos große Motorenangebot von zehn parallel produzierten Aggregaten sicherte dem keineswegs preiswerten Strich-Acht anhaltende Popularität. Die Nachfrage blieb konstant hoch, so dass sich lange Lieferzeiten als Mercedes-Markenattribut etablierten und die Bauzeit des Strich-Acht am Ende um ein Jahr verlängert wurde, obwohl die nachfolgende W-123-Mittelklasse schon in den Schauräumen stand.
Schließlich verfügte bereits der Strich-Acht über zwei Erfolgsgeheimnisse, die sich Mercedes in dieser Form nur mit einem direkten Wettbewerber teilte. Wie der schwedische Autobauer Volvo schrieben die Schwaben Fahrzeugsicherheit und Langlebigkeit besonders groß. „Panzer“ lobte deshalb die Presse die als Limousinen, Achtsitzer-Langversionen, Hardtop-Coupés und als Fahrgestell für Sonderaufbauten erhältlichen Sternenkreuzer, die mit den fast gleichzeitig lancierten Volvo 140 und 160 konkurrierten. Neben der Sicherheitsfahrgastzelle waren es viele Details, mit denen die Daimler-Ingenieure für Furore sorgten. Etwa die damals noch nicht selbstverständlichen servounterstützten Scheibenbremsen an allen vier Rädern, die vom Citroën DS inspirierte pedalbetätigte und per Zugknopf gelöste Feststellbremse, die per Unterdruck arretierten Vordersitzlehnen im Coupé, die originellen Schmetterlingsscheibenwischer und die ab 1973 analog zur S-Klasse eingeführten, geriffelten, schmutzabweisenden Rückleuchten.
Features, die in allen Situationen ein sichereres Gefühl tiefenentspannter Gelassenheit vermitteln sollten – wie es insbesondere die Fahrer des 40 kW/55 PS abgebenden Ölbrenners 200 D benötigten. Mehr als eine halbe Minute gönnte sich der phlegmatische Diesel bis seine Tachonadel die 100-km/h-Marke passierte und auch die minimal kräftigeren Typen 220 D und 240 D fühlten sich ihrem Ruf als Wanderdünen verpflichtet. Zum Ausgleich waren die Diesel unzerstörbar robust, was ihre Popularität bei Taxiunternehmern und Gebrauchtwagenkäufern fundamentierte. So ist ein 240 D Taxi bis heute der Mercedes-Benz mit der höchsten bekannten Kilometerleistung. Sein griechischer Besitzer hat mit dem rastlosen Viertürer 4,6 Millionen Kilometer zurückgelegt, ehe der Benz im Stuttgarter Werksmuseum zur Ruhe kam. Das klappte natürlich nur, wenn der serienmäßig unvollkommene Rostschutz nachgebessert wurde, aber diese Notwendigkeit gab es damals bei allen Marken.
Übrigens hatte Mercedes auch einen revolutionären Rußwolkenmacher im Angebot, denn der 240 D 3.0 schrieb 1974 Geschichte als erster Großserien-Fünfzylinder und galt als rasantester Diesel weltweit mit einer Vmax von 148 km/h. So schnell war kein Käfer und auch dem Golf mit Basismotor zeigte der Mercedes seine dunkle Abgasfahne. Die Dieselfans waren derart begeistert von dem in ihren Augen wilden und dennoch sparsamen Heißsporn, dass sie den hohen Kaufpreis bereitwillig zahlten, für den es alternativ schon noble englische V8 gab. Andererseits war der Kauf eines Strich-Acht eine Langzeitinvestition, wie die bis heute überlebende Zahl der H-Kennzeichen-Klassiker beweist.
Text: Wolfram Nickel/SP-X
Fotos: Daimler/SP-X