Die Tour de France ist ein Spektakel für Menschen aus allen Erdteilen. Das sieht man auch schon an den 198 Profis aus 22 Ländern. Jeder Erdteil ist da vertreten. Die Tour ist bunt und gelebte Völkerverständigung in den drei Wochen im Juli. Doch eigentlich ist diese dreiwöchige Rundfahrt so eine Art französisches Nationalheiligtum. Und es gibt sie noch, die kleinen Provinzstädtchen in den vielen Departements. Dort, wo „le Tour“ noch den Franzosen gehört, wo kaum Touristen hinkommen und die Einheimischen unter sich sind. Wie in dem 7000-Sehlen-Städtchen St. Jean de la Maurienne in der Auvergne, wo wir einen Tag lang „entre nous“ sein durften. Hier unsere ganz speziellen Eindrücke
Vor der Brasserie „Le Saint Antoine“, unweit dem „Place de la Cathedrale“, stehen die schicken kleinen Rattan-Sessel an diesem Tag schon sehr früh und sehr einladend vor der Tür. Kein Wunder, bei geschätzten 30 Grad und mehr. Ich bestelle mir das, was man mitten im heißesten Juli in Frankreich am sinnvollsten trinken sollte: einen Menthe à l’eau. Ein eiskalter, je nach Gusto, mit Wasser verdünnter Pfefferminzsirup. Grün ist das Zeug. Um nicht zu sagen eklig knallgrün. Aber es gibt keinen besseren Durstlöscher.
Die Tour gehört hier (fast) zum jährlichen Ritual wie der 14. Juli oder der Neujahrstag, der Jour de l’An. Denn wenn der Tross den Weg über Croix de Fer, Télégraphe und Galibier nimmt, und das tut er sehr oft, kommt er zwangsweise durch Saint Jean. Ein Nest im Departement Rhone-Alpes, das an Tour-Tagen so gut wie touristenfrei ist. Die stehen und gebärden sich wie wild zu Zehntausenden an den Anstiegen der steinernen Riesen im Dreiländereck zwischen Lyon, Genf und Turin.Der Galibier, 30 Kilometer entfernt, das Dach der Tour (2642 Meter), hat in diesen Tagen eine magische Anziehungskraft. Biegt man von der D902 über La Grange ab, dann türmt sich das steinerne Ungetüm in seiner ganzen mächtigen Erhabenheit auf. „Bienvenue a l’enfer“ – „Willkommen in der Hölle“. Herrschen unten an der kleinen Brücke hinter der einzigen Pharmacie des Ortes noch 30 Grad, so tobt oben mitunter das Inferno. Regen, Graupel, Kriechfeuchte. Gottverdammte Verlassenheit im Duell Mensch gegen steinerne Mauer.
Dorthin stürzen sich die Tour-Touristen: Ins wilde Nirgendwo der Savoier Hochalpen. Wo man den Fahrern die Qualen, die Strapazen, an der schmerverzerrten Fratze ablesen kann. Hochgenuss für Voyeure und Claqueure. Ein Sado-Maso-Festival, wo Europa am schönsten und am grausamsten ist.Dagegen ist Saint Jean de Maurienne Partyzone. Das örtliche Leben ruht, bis alles vorbei ist. Eine Mischung aus gelassener Beschwingtheit und angespannter Erwartung . Hier gehört Frankreich den Seinen. Gegen 13 Uhr soll die „Publicitaire“, die lärmende, bunte Werbekarawane durch das Städtchen ziehen. Bis dahin gilt es, sich ein Plätzchen am Straßenrand zu sichern, das Muße, aber auch Unterhaltung verspricht.
Das schrille Vorspiel der Tour-Partner und Sponsoren mit ihren überdimensionalen „Schwellköppen“ auf den farbenfroh verpflasterten Fahrzeugen gehört dazu, wie Ausreißer, Hauptfeld, Nachzügler, Materialwagen und Tour-Offizielle. Rund zwei Stunden vorher zieht „la public“, durchs Land. Es regnet kleine Geschenke, Süßigkeiten, Tütchen mit allerlei Tand. Rosenmontag in der Auvergne. Kamelle à la francaise.Um die Mittagszeit ist die Hitze unerträglich geworden, irgendwo in der Ferne grummelt es schon. Die Plätze vor dem „Saint Antoine“ sind längst verlassen, alles drängt zum Straßenrand. Die Reste meines „gateau aux noix“, eines gepriesenen Nusskuchens der Region Rhone-Alpes, zerkrümeln in der Hitze.
Dann geht es los: Die ersten BMW der französischen Gendarmerie, sowas wie die Ritter der Tour, bilden die Vorhut. Hälse renken sich, das Leben findet jetzt vorwiegend auf Zehenspitzen statt. Dann explodiert der Straßenrand. „Les coureurs“, das Feld kommt. Ein paar Ausreißer hat man ziehen lassen. Es folgen die Offiziellen, Unmengen von Materialwagen, ein geschlossenes Feld. Kurz zuvor war „ravitaillement“, Verpflegung. Eine Energie-Riegel vernichtende Velo-Masse, bunte Söldner im Dienste der sie entlohnenden Industrie-Fürsten, durchzieht, begleitet vom ständigen Surren der Laufräder, Saint Jean de Maurienne.
Irgendwo in der Menge der Fahrzeuge der „Direction Du Tour“ soll sich heute auch Frankreichs best behüteter und bewachter Mensch befinden. Emanuel Macron hat sich für heute angesagt. Seine Leibgarde mit auffällig unauffälligen BMW-Boxern schwirrt jedenfalls schon um den Promi-Tross zwischen Ausreißern und Hauptfeld herum.Dann kommt das „voiture balaie“, der Besenwagen, der die letzten aufkehrt. Und der – wie immer – dafür sorgt, dass auch in Saint Jean de Maurienne das Leben wieder seinen gewohnten Gang geht. Bis zum nächsten Mal.
Text und Fotos: Jürgen C. Braun