Es sind die üblichen Verdächtigen in den üblichen Rollen, die am Sonntagmorgen um 7 Uhr unserer Zeit im fernen Australien ihre Autos anlassen werden, um sich im globalen Schaufenster des „Circus Ecclestone“ bis Ende November auf allen fünf Kontinenten zu messen: Jäger und Gejagte, Platzhirsche, aufmüpfige Herausforderer, ein geordnetes Mittelfeld und die Hinterherfahrer, das „Füllmaterial“ auf den hinteren Plätzen. So funktioniert seit Jahren und Jahrzehnten die Formel 1, das wahrscheinlich größte sportliche Spektakel in jedem Jahr und so wird sie auch in diesem Jahr wieder funktionieren. Eine Handvoll Auserwählter (Alonso, Button, Hamilton, Räikkönen) attackiert den ungekrönten König der vergangenen drei Jahre in Gestalt von Sebastian Vettel in seinem Überauto, das scheinbar Flügel verleiht.
Die Angestellten eines österreichischen Limonaden-Herstellers gegen die Großen der Automobilwelt: gegen Konzerne wie Mercedes-Benz, gegen Mythen wie Ferrari, gegen feste Größen wie McLaren oder Lotus. Und gegen den Rest der schrillen PS-Gigantomanie. Ab Sonntagmorgen wird die mittlerweile nur noch zwei Jahre vom Rentenalter entfernte „Königsklasse“ des Motorsports wieder alle in ihren Bann ziehen, die den milliardenschweren Tross und seine Auftritte über mehr als ein halbes Jahr lang verfolgen. Kein Sportereignis neben der Fußball-Bundesliga hält den (deutschen) Fernsehkonsumenten über das Jahr hinweg so gebannt an den Bildschirmen wie die Formel 1: Kein Olympia, keine Tour de France, keine Fußball-WM, kein Weltcup in irgendeiner anderen Sportart. Die Formel 1, deren Weg Tragödien und Triumphe, atemberaubende Szenen, höllische Crashs, mitunter Lug und Betrug begleiten und zieren, sie alle hat uns wieder ab dem kommenden Sonntag.
Bis zum 24. November, wenn in Brasilien das letzte Rennen abgewinkt wird und die Frage beantwortet sein wird, die jetzt alle bewegt: Wird Sebastian Vettel, der Wunderknabe aus dem Odenwald-Städtchen Heppenheim, zum vierten Male Weltmeister in seinem Red-Bull-Boliden sein oder hat die Dauerattacke der versammelten Konkurrenz endlich zum Erfolg geführt? Glaubt man den Testzeiten der vergangenen Wochen, dann wird es vor allem Mercedes-Benz sein, dass nach dem zweiten Rückzug des Fahrer-Denkmals Michael Schumacher dem 25-jährigen Titelträger das Leben schwer machen wird. Mercedes, nicht nur im Jahr 1 nach Schumacher, sondern auch nach 22 Jahren auch im Jahr 1 nach Norbert Haug, geht wieder einmal mit vielen Vorschusslorbeeren in die Saison. Was die Zeiten aus Barcelona und von den anderen Teststrecken wert sind: Erst das „richtige Formel-1-Leben“, die ersten Rennen, werden es zeigen.
Der „RB9“, mit dem Red Bull das bewährte Duo Sebastian Vettel/Mark Webber auf die Rennstrecken dieser Welt schicken wird, hat bisher offensichtlich noch genügend Potenzial nach oben, um moduliert oder verbessert zu werden. Mit den schnell abbauenden Pirelli-Reifen haderte der Titelverteidiger genauso wie mit den Sekunden-Bruchteilen, die die Konkurrenz zu diesem frühen Zeitpunkt offensichtlich schon enteilt war. Doch die erfolgreiche Aufholjagd des vergangenen Jahres hat eines gezeigt: Vettels akribischer und minutiöser Arbeitsstil, die Verbesserung an jedem Detail des Fahrzeugs, an seiner persönlichen Fitness, die Fähigkeit alles in Frage und auf den Prüfstand zu stellen, lässt bei Red Bull immer noch viel Luft nach oben, um sich von Rennen zu Rennen weiter zu verbessern.
Trotz mannigfacher Versuche der Konkurrenz, das Duo Vettel/Webber mit dem Deutschen als klarer Nr. 1 mit Zweitracht zu und Ränkespielen ins wanken zu bringen, hat das Team um Chris Horner letztendlich alle Zweifel im „stillen Kämmerlein“ beseitigt. Vettel und Webber werden vermutlich nie die dicksten Freunde werden, aber ihre erfolgsorientierte Zweckgemeinschaft, in der nicht nur die Nr. 1, sondern auch die Nr. 2 um ihre Stellung und ihre Aufgabe weiß, wird auch in der neuen Saison das große Plus sein, wenn es gilt, über Trainingsfahrten, Qualifying, Pole-Position bis hin zum Fallen der schwarz.-weiß-karierten Zielflagge alle Kräfte für den gemeinsamen Erfolg zu bündeln.
Eines wird auch am kommenden Sonntag in Melbourne gelten: Das Titelrennen in der Formel 1 wurde noch immer auf der Zielgeraden der Saison und nicht schon vor der ersten Kurve entscheiden. Das wird auch zum Saisonauftakt so sein, egal, für wen am Ende die Siegerhymne gespielt werden wird. Auch in „Down under“ wird wieder der Startschuss in eine Saison fallen, die hoffentlich genau sp spektakulär und so unberechenbar in ihren 19 Rennen sein wird, wie das in der Vergangenheit immer der Fall war.
Text: Jürgen C. Braun
Fotos: Mercedes/Benz, Ferrari