In meinen Worten: Lars Geipel über das internationale Parkett als Schiedsrichter

Ob Titelkampf oder Kellerduell in der DAIKIN HBL, ob Spitzenspiel oder Abstiegsthriller in der Handball Bundesliga Frauen, ob ein Nachbarschaftsderby in der 3. Liga oder die Finalrunde der Deutschen Jugend-Meisterschaft: Seit 2020 können die Schiedsrichter*innen des Deutschen Handballbundes (DHB) bei ihren Einsätzen auf die Unterstützung der KÜS bauen. Die knapp 300 Unparteiischen eint die Leidenschaft für das Pfeifen, und doch bringt jeder seine eigenen Erfahrung, seine eigenen Antrieb, seine eigene Geschichte mit. In der Interviewserie „In meinen Worten“ widmen sich ein oder zwei Unparteiische einem speziellen Thema. In diesem Monat geht es mit dem früheren internationalen Spitzenschiedsrichter und heutigem Delegierten Lars Geipel um das internationale Parkett.

Herr Geipel, die Handball-Bundesliga ist, so heißt es immer wieder, die stärkste Liga der Welt. Wird an Schiedsrichter, die in dieser Liga unterwegs sind, ebenfalls dieser Anspruch gestellt?

Die Ansprüche an deutsche Schiedsrichter in der internationalen Handballwelt sind sehr hoch. Das ist auch berechtigt und nachvollziehbar. Schließlich haben die Unparteiischen hierzulande das Privileg, Woche für Woche Spiele in der Breite stärksten Liga der Welt zu leiten. Hinzu kommt, dass viele internationale Stars in Deutschland spielen oder gespielt haben – und die wissen die Qualität der deutschen Schiedsrichter in der Spitze und auch in der Breite zu schätzen. Aber die Konkurrenz für unsere Referees ist groß: Es gibt viele sehr gute Schiedsrichter in Europa und der Welt.

Wie wird die deutsche Liga international aus Schiedsrichtersicht betrachtet?

Die deutsche Bundesliga hat ein hohes Attraktivitätspotenzial bei Schiedsrichtern aus anderen Ländern. Schließlich sind die Hallen voll, die Leistungsdichte der Teams groß, die TV-Präsenz überdurchschnittlich, die Bezahlung attraktiv. Natürlich gibt es auch in anderen europäischen Ländern viele gute Ligen, um konkret Frankreich oder Dänemark zu nennen. Aber gerade für Schiedsrichter aus Ländern wie Ungarn, Polen, Österreich, Schweiz, Spanien oder Portugal, die nur wenige wirklich konkurrenzfähige Mannschaften innerhalb der Liga im Spitzenbereich haben, ist die deutsche Bundesliga natürlich ein Vorbild. Viele internationale Gespanne erleben die Professionalität und die Stimmung in deutschen Hallen bei Europapokalspielen oder Großturnieren wie Europa- und Weltmeisterschaften. Das macht natürlich Appetit.

Inwiefern führt das zu einer ‚Vorbildrolle‘ gegenüber den internationalen Kollegen?

Als Schiedsrichter musst Du immer Vorbild – egal, ob Du aus Deutschland oder aus einem anderen Teil der Welt kommst. Und nur, weil Du aus Deutschland kommst, bist du nicht automatisch für die ganze Dauer eines Großturniers oder sogar Finalspiele gesetzt. Es zählt nur deine Leistung – und die musst du immer bringen. Als Schiedsrichter aus Deutschland, die den permanenten Druck in der Bundesliga gewohnt sind, haben wir sicher einen Vorteil gegenüber anderen Nationen, deren Ligen nicht so stark sind.

Sie waren als Schiedsrichter selbst jahrelang auf internationalem Parkett unterwegs und sind nun als Delegierter ebenfalls in der ganzen Handball-Welt im Einsatz. Was bedeutet es als Schiedsrichter, international unterwegs zu sein?

Es ist das größte Privileg im Schiedsrichterwesen, das man sich vorstellen kann. Du repräsentierst ja auch als Schiedsrichter bei internationalen Einsätzen dein Land und mehr geht nicht. Dieses Privileg haben Marcus und ich uns auch immer wieder vor Augen geführt. Es gibt 20.000 Handball-Schiedsrichtern in Deutschland und wir haben zu den fünf oder sechs Gespannen gehört, die das deutsche Schiedsrichterwesen und den deutschen Sport im Ausland repräsentieren durften. Das ist das Höchste, was man sich als Schiedsrichter wünschen und vorstellen kann.

Das ist natürlich aber auch ein zusätzlicher Druck …

Druck gehört auf absolutem Spitzenniveau einfach dazu. Natürlich ist der Druck bzw. der Anspruch an dich international hoch, aber das ist er auch in Deutschland, wenn du in der Bundesliga pfeifst. Um es knallhart zu sagen: Wenn du diesem Druck nicht standhalten kannst, dann hast du da oben auch nichts verloren. Es steht bei Bundesliga-Schiedsrichtern ebenso wie allen anderen Sportlern ein klarer Leistungsgedanke dahinter und da trennt sich die Spreu vom Weizen.

Was nimmt man von den internationalen Erfahrungen mit, was man im deutschen Handball nicht erlebt?

Der wichtigste Punkt ist ganz einfach: Man lernt nicht nur andere Kulturen und andere Mentalitäten kennen, sondern auch die Interaktion mit Menschen aus anderen Nationen. Wenn man als Schiedsrichter für den Deutschen Handballbund pfeift, erlebt man das in Ansätzen, weil Spieler aus den verschiedensten Nationalitäten in den Bundesliga-Vereinen spielen – und sie reagieren oft auch ganz unterschiedlich auf die Entscheidungen. Das ist ein Learning, das international noch einmal stärker ist.

Wie schwer war es für Sie anfangs, bei den ersten internationalen Einsätzen, sich darauf einzustellen?

Das war ein immenser Lernprozess, weil wir nicht wussten, wie Spieler und Trainer in anderen Ländern auf unser Auftreten reagieren, wie sie Handball interpretieren und wie sie mit unseren Entscheidungen als Schiedsrichter umgehen. Das hat mich, da bin ich ehrlich, am Anfang punktuell immer wieder auf dem falschen Fuß erwischt. Das hochemotionale Verhalten in osteuropäischen Nationen wie Serbien, Bosnien oder Mazedonien oder generell den Handball und das ganze Drumherum in Asien, Afrika oder Südamerika kann man nicht mit den Erfahrungen gleichsetzen, die wir im nordwest-europäischen Handballraum machen

Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Ich erinnere mich an unser erstes Spiel bei einer Junioren-Weltmeisterschaft zwischen Tunesien und Israel. Das war unsere erste Begegnung zwischen Mannschaften aus einem muslimisch und einem jüdisch geprägten Land. Da herrschte an sich ein hohes Konfliktpotenzial. Es geht also mitunter nicht nur um das Sportliche, sondern hat politische oder religiöse Aspekte. Entsprechend wichtig ist international, solch eventuelle Umstände im Hinterkopf zu haben und entsprechend wachsam und sensibel zu sein, auch in der Kommunikation mit den Spielern und Offiziellen.

Sie haben gerade schon anklingen lassen, dass sich auch der Handball an sich von dem Handball unterscheidet, den wir aus Nord- und Westeuropa kennen. Wie groß ist der Unterschied in diesem Punkt?

Das hängt sehr davon ab, wo man in der Welt unterwegs ist. Schiedsrichter aus Deutschland sind es durch die Bundesliga gewöhnt, den europäischen Handball zu pfeifen. Das ist sportlich kein großer Unterschied, ob man in der Champions League in Nord-, Ost-, Süd-, oder Westeuropa unterwegs ist oder in Deutschland pfeift, das Spiel ist ähnlich geprägt; Südamerika ist ebenfalls ähnlich.

Afrika und Asien haben hingegen eine ganz andere Spielkultur, die von einer sehr robusten und körperorientierten Spielweise geprägt ist und auch unorthodoxen Methoden umfasst, die man europäisch so nicht spielt. Darauf muss man sich als Schiedsrichter einstellen und wissen, dass bei Weltmeisterschaften oder bei nationalen Championships in Afrika oder Asien ein ganz anderer Stil und dazu mitunter eine andere Mentalität auf einen warten.

Unabhängig von der Herausforderung, die das mit sich bringt: Wie schön ist es, diese unterschiedlichen Erfahrungen zu machen?

Das ist mega; ein einziges Lernerlebnis. Man geht raus aus der eigenen Komfortzone Europa und macht komplett neue Erfahrungen. Das zu händeln und jedes Spiel – egal, an welchem Ort es stattfindet – gut über die Bühne zu bringen, ist natürlich eine Herausforderung, aber das bringt einen unheimlich weiter. Und es macht einfach total viel Spaß! Wir haben abseits vom Handball immer sehr positive Erfahrungen gemacht, die Gastgeber bzw. Ausrichter waren immer herzlich … auch, wenn das auf dem Feld davor oder danach mitunter anders war (lacht).

Welche Länder durftest du durch den Handball sehen, die du sonst wohl nicht kennengelernt hättest?

Wir waren als Schiedsrichter bestimmt in mindestens … (überlegt kurz) … 40 bis 50 Ländern. Jedes Land hat seinen eigenen Reiz und es gibt viele Länder, die sicherlich nicht oben auf meiner Bucket-List gestanden hätten, aber jedes Land hat seine eigene Schönheit und ich konnte überall etwas lernen. Wenn man nur in Deutschland ist und nicht über den Tellerrand „hinausguckt“, hört oder liest man vielleicht nur die Nachrichten und hat Angst, wie alles in der Welt läuft. Vor Ort entstehen ganz andere Kontakte und man gewinnt einen ganz anderen Blick auf die Welt.

Welches Erlebnis ist – abseits des Handballs – besonders hängengeblieben?

Der Kamelritt in Katar! Bei der Weltmeisterschaft in Katar haben wir erst ein Kamelrennen geschaut und durften danach selbst auf einem Kamel reiten. Marcus und ich waren mit unseren dänischen Schiedsrichterkollegen Gjeding/Hansen unterwegs, mit denen wir gut befreundet sind und dieses gemeinsame Erlebnis hat sich eingebrannt. Sportlich waren die Olympischen Spiele in London und unser zweites Champions-League-Finale emotional herausragend.

Inwiefern bleibt im Rahmen von internationalen Ansetzungen überhaupt Zeit, Land und Leute kennenzulernen?

Da muss ich zwischen Europapokal und Großturnieren differenzieren. Wenn du in der Champions League oder European League unterwegs bist, fährst du in der Regel vom Flughafen direkt ins Hotel, dann weiter zu Halle und nach dem Spiel wieder direkt ins Hotel und am nächsten Morgen zum Flughafen. Da siehst du praktisch von Stadt und Land gar nichts. Das ist für die Mannschaften nicht anders, denn alle konzentrieren sich auf das Spiel. Wir sind ja nicht als Touristen da, sondern haben einen sportlichen Leistungsgedanken.

Und bei Großturnieren?

Bei Welt- oder Europameisterschaften und auch Olympischen Spielen ist das anders. Diese Turniere ziehen sich über zwei bis drei Wochen hin und es gibt immer Ruhetage, an denen man die Möglichkeit hat, etwas anderes zu machen und das Land kennenzulernen. Unter den Schiedsrichterkollegen entwickeln sich über die Zeit natürlich Freundschaften und dann unternimmt man immer gerne etwas zusammen, wenn man sich wiedersieht.

2020 haben Sie ihre Schiedsrichterkarriere beendet und sind jetzt als Delegierter unterwegs, sowohl in der Bundesliga als auch international. Wie sehr genießen Sie, dass Sie weiter Teil des internationalen Handballs sein können?

Das ich weiter auf höchstem Niveau unterwegs sein darf – in neuer Rolle, aber bei der alten Leidenschaft – ist das größte Glück, was ich mir im Handball vorstellen kann. Es ist tatsächlich auch ein bisschen wie ein Klassentreffen. Man sieht viele alten Kollegen wieder, die entweder noch pfeifen oder eine Aufgabe rund um das Spielfeld haben; man begegnet früheren Spielern, die jetzt Trainer sind oder Trainern, die älter geworden sind (lacht). Das macht mega viel Spaß.

Wie groß war die Umstellung?

Der psychologischer Switch von Schiedsrichter zu Delegierter ist ziemlich groß, weil du dich in einer komplett neuen Rolle zurechtfinden musst. Ich freue mich jedoch über die neue Aufgabe und es ist schön, den jungen Schiedsrichtern, für die man früher vielleicht sogar ein Vorbild war, etwas mitgeben zu können und sie damit hoffentlich noch besser zu machen. In Europa ist es ja so, dass man als Delegierter auch zugleich Schiedsrichter-Coach ist. Ich sehe mich übrigens auch weiter als Teil des Schiedsrichterteams, ich will meine Erfahrung gerne weitergeben und gerade jüngeren Schiedsrichter immer das Gefühl vermitteln, dass sie nicht alleine auf dem Feld sind. Wir wollen als Delegierte nicht nur dafür sorgen, dass spieltechnisch alles in Ordnung ist, sondern eine Unterstützung sein.

Zum Abschluss: Neben den internationalen Wettbewerben der Profis gibt es auch in der Jugend internationale Turniere, sowohl im Leistungs- als auch im Breitensport. Wie wichtig ist diese „Internationalität“ als eine Stärke des Handballs für die Gesellschaft?

Das ist nicht nur eine ganz große Stärke des Handballs, sondern generell des Sports. Der Gedanke, andere Nationen kennenzulernen und Grenzen zu überwinden, vereint alle Sportverbände. Es geht um den Sport als gemeinsame Leidenschaft der Menschen, und nicht um Religion, Hautfarbe oder Politik. Der Sport schafft Möglichkeiten, ein Verständnis füreinander zu entwickeln, weil man die gleiche Leidenschaft hat und eventuell mit Menschen aus Ländern in Kontakt kommt, die man sonst eben nur aus den Nachrichten kennt. Solche Erfahrungen bringen jeden von als Mensch wahnsinnig weiter!

Fotos: Marco Wolf/Sascha Klahn

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