Meine Geschichte – Sascha Wild: Gegen alle Zweifel aus Elgersweier nach Europa

Ob Titelkampf oder Kellerduell in der LIQUI MOLY HBL, ob Spitzenspiel oder Abstiegsthriller in der Handball Bundesliga Frauen, ob ein Nachbarschaftsderby in der 3. Liga oder die Finalrunde der Deutschen Jugend-Meisterschaft: Seit 2020 können die Schiedsrichter*innen des Deutschen Handballbundes (DHB) bei ihren Einsätzen auf die Unterstützung der KÜS bauen. Jede*r von ihnen investiert viel Zeit und Herzblut in die große Leidenschaft. Doch warum sind sie Schiedsrichter*in geworden? Welchen Weg sind sie gegangen? Und was hat ihre Karriere geprägt? Einer der knapp 300 Unparteiischen des Deutschen Handballbundes ist Sascha Wild, der gemeinsam mit Fabian Baumgart dem Elitekader angehört. Das hier ist seine Geschichte.

Barcelona, Lissabon oder Paris: Der Handball hat Sascha Wild in den vergangenen Jahren in die großen Städte Europas geführt. Gemeinsam mit Fabian Baumgart kommt der heute 40-Jährige nicht nur regelmäßig in der EHF Champions League und bei Länderspielen zum Einsatz, das Duo nahm auch an zwei Junioren-Europameisterschaften teil und war fünfmal für das REWE Final4 um den DHB-Pokal in Hamburg nominiert – darunter dreimal für das Pokalfinale, zuletzt im April 2022. Hinzu kommen drei Berufungen für das Final Four der Frauen sowie zwei Endspiele um die Deutsche Jugend-Meisterschaft – und das sind nur die Highlights der über 500 Spiele, die Baumgart und Wild in inzwischen 16 gemeinsamen Jahren absolviert haben.

Doch egal, wohin es das Duo verschlug – für Wild geht es aus den Hallen der großen Handball-Welt immer wieder zurück in seinen kleinen Heimatort. Seit 35 Jahren lebt er in Elgersweier, einem Stadtteil von Offenburg – früher mit seinen Eltern, inzwischen mit seiner Frau und dem gemeinsamen Schäferhund. „Ich bin ein Elgersweier Kind“, sagt er selbst über seine Wurzeln. In Elgersweier besuchte er die Grundschule, im örtlichen Verein erlernte er das Handballspielen, später übernahm er die im Ort ansässige Firma seines Vaters. Seit zwei Jahren leitet Wild zudem als erster Vorsitzender die Geschicke seines Heimatvereins – und er steht bis heute zwischen den Pfosten, wenn das Pfeifen es zulässt.

Aus Elgersweier über die Bundesliga nach Europa: Dass Wild diesen Weg als Schiedsrichter gehen würde, war anfangs nicht abzusehen. 1996 machte er mit 16 Jahren seinen Schiedsrichterschein, sein erster Einsatz führte ihn in den Nachbarort, zur männlichen C-Jugend des TuS Hofweier. „Ich war mega-nervös und wollte alles richtig machen – und muss im Nachhinein zugeben, dass es ein völliges Desaster war“, schmunzelt Wild. „Nach dem Spiel kam einer der Trainer zu mir und fragte, ob Schiedsrichter wirklich das Richtige für mich sei.“

Trotz dieser wenig ermutigenden Worte nach dem Debüt blieb Wild dabei. „Ich habe nach und nach Sicherheit gewonnen“, beschreibt er. „Und dann ging relativ schnell aufwärts.“ Mit seinem damaligen Gespannpartner stieg Wild bis in die Regionalliga auf, bevor sich das Gespann 2005 trennte. „Er war vier Jahre älter als ich und wir hätten damals keine Chance mehr gehabt, ins Jungschiedsrichter-Projekt des DHB aufgenommen zu werden“, erinnert sich Wild an diesen Einschnitt. 

Und so trafen Baumgart und Wild aufeinander. Die beiden Schiedsrichter kannten sich von Lehrgängen in ihrem Landesverband, der zwei Jahre ältere Baumgart pfiff zu dieser Zeit schon im Jungschiedsrichter-Projekt. Sein Partner musste berufsbedingt kürzertreten, entsprechend war auch Baumgart auf der Suche. „Fabian hat mich damals angesprochen ob ich mir vorstellen könnte, mit ihm zu pfeifen“, erinnert sich Wild. „Unser beider Ziel war es, in die 1. Bundesliga zu kommen; da war die Entscheidung schnell klar.“ Für die Schiedsrichter-Karriere stellte er seine Spieler-Karriere nach einem Ultimatum des Schiedsrichterwarts hintenan und trat aus der 1. Mannschaft, die damals in der Südbadenliga spielte, zurück. „Ich habe zu den Jungs gesagt: Leute, ich muss leider aufhören, aber ich will als Schiedsrichter in die 1. Bundesliga“, erinnert sich Wild. „Damals wurde das sehr belächelt.“

Der Spott schwand jedoch angesichts der Erfolge schnell: Gleich in ihrer gemeinsamen Saison machten Baumgart und Wild den Aufstieg in die 2. Bundesliga doppelt perfekt – nämlich sowohl über die Leistungen im Jungschiedsrichter-Projekt als auch über das Ranking der Regionalliga Süd. Auch die folgende Saison 2006/2007 lief lange gut. „Wir waren völlige Newcomer, aber standen zum Halbzeitlehrgang auf dem zweiten Platz der Rangliste“, sagt Wild. „Wir hätten also fast noch einmal aufsteigen können, aber wir konnten unsere Leistung nicht konservieren und sind in der Rückrunde im Ranking abgestürzt.“

Im darauffolgenden Jahr rückte der Handball zeitweise in den Hintergrund: Nach dem plötzlichen Tod seines Vaters übernahm Wild, der zusätzlich zu der Ausbildung zum Zentralheizungs- und Lüftungsbauer auch Elektromechaniker lernte, die Sanitär- und Heizungsfirma der Familie. Heute beschäftigt Wild fünf Mitarbeiter und verbringt einen Großteil seiner Zeit mit Planung und Verkaufsgesprächen; ist Not am Mann, springt er aber auch selbst im Außendienst ein.

„Es macht mir großen Spaß – auch, wenn die aktuellen Umstände die Lage nicht einfacher machen“, sagt er mit Verweis auf Energiewende und Rohstoffpreise. Dennoch ist er zufrieden: „Ich habe richtig gute Leute – und meine Mutter unterstützt mich bis heute im Büro und hält mir den Rücken frei, wenn ich für den Handball unterwegs bin.“

Denn über die Jahre nahm das Pfeifen immer mehr Zeit ein, der Aufwand wurde mit jedem Aufstieg größer: Im Sommer 2010 gelang Baumgart und Wild der Schritt in den Elite-Anschlusskader; am 14. November gaben sie ihr Debüt in der 1. Bundesliga der Männer – direkt vor über 7.000 Zuschauern in der Berliner Max-Schmeling-Halle. Der zweite Einsatz in der deutschen Beletage führte das Duo in die Ostseehalle nach Kiel. „Wir haben gute Spiele bekommen und gute Spiele abgeliefert“, fasst Wild zusammen. Die Belohnung folgte schnell: Der direkte Aufstieg in den Elitekader, in dem sich das Team aus Südbaden seitdem etabliert hat.

Richtig eng wurde der Terminkalender, nachdem 2013 das internationale Geschäft dazukam: Baumgart/Wild wurden für eine Sichtungsmaßnahme des europäischen Verbandes in Schweden gemeldet. „Peter Rauchfuß, unser damaliger Schiedsrichterwart, hat vorher beiläufig gefragt, was unser Englisch macht“, erinnert sich Wild. Die Sorge war berechtigt: Wild („Ich bin kein großes Sprachtalent.“) musste sich auf Englisch vorstellen, das ging gehörig schief: „Der dänische Lehrgangsleiter hat mich anschließend beiseite genommen und zu mir gesagt: Mein Freund, dein Englisch ist erbärmlich – aber wir schauen mal, ob du pfeifen kannst.“ Diese Chance rettete das Duo: Auf dem Feld überzeugte Wild gemeinsam mit Baumgart, sie bekamen auf Anhieb das Finale beim renommierten Partille-Cup.

Mit über acht Jahren Erfahrung auf internationalem Parkett – darunter zwei Junioren-Europameisterschaften 2014 und 2016 – gehören Baumgart/Wild auch international zu den Routiniers. Der Handball führte sie nach Barcelona, Lissabon, Paris oder Sankt Petersburg, bei einem fünftägigen Qualifizierungsturnier in Reykjavík erlebten sie den isländischen Winter mit nur vier Stunden Helligkeit am Tag. „Das sind einmalige Erlebnisse und wir genießen sie sehr“, betont Wild.

Bleibt Wild neben seiner Firma und der Schiedsrichterei noch Zeit, steckt er diese in seinen Heimatverein: Er vertritt den HC Elgersweier als erster Vorstand auf Verbandstagen, kümmert sich um die Organisation der Heimspieltage oder führt Trainergespräche. „Ich will etwas zurückgeben“, sagt er schlicht. Nachdem der Beginn seiner Amtszeit von der Corona-Pandemie überschattet war („Ich habe Hygienekonzepte ausgearbeitet und Sitzplatzmarkierungen geklebt.“) kann Wild inzwischen gestalten. Der erste große Erfolg: Der Bau des neues Beachplatzes, dessen Einweihung in diesem Frühjahr stattfand. „Am Anfang haben mich alle verrückt erklärt, aber ich habe gesagt: Lass uns das Projekt angehen“, grinst er. „Jetzt bin ich echt stolz auf das Erreichte und aber auch auf die vielen Helfer ohne die wäre das alles nicht realisierbar gewesen.“

Wieder einmal allen Zweifel getrotzt: Es ist ein Muster, das sich durch das Handballleben von Wild zieht. Doch ob der Alltag eines Amateurvereins mit seinen Sorgen und Nöten oder der Glamour der Bundesliga: Wild kennt – und liebt – beide Seiten des Handballs. In der Kreisklasse B steht er bis heute selbst zwischen den Pfosten, die Mannschaftskollegen sind langjährige Weggefährten. Einmal die Woche trainieren sie, immer donnerstags – hin und wieder muss Wild absagen, wenn er eine Ansetzung für die LIQUI MOLY HBL erhält. „Es ist ein Privileg, in der 1. Bundesliga pfeifen zu dürfen“, betont er. „Jedes Spiel dort ist besonders.“

Und dann gibt es Spiele, die doch noch ein Stück besonderer sind – so, wie das Länderspiel zwischen Montenegro und Griechenland („Eine unfassbare Stimmung, das haben wir noch nicht erlebt – bengalisches Feuerwerk, Polizisten in Kampfmontur, Kanonenschläge auf der Tribüne.“) oder das Finale um den DHB-Pokal zwischen dem THW Kiel und dem SC Magdeburg, das Baumgart und Wild im April leiten durften. „Das war eins der schwersten Spiele in unserer Laufbahn“, gesteht Wild ein.

Ein Finale zu leiten, sei „Fluch und Segen“ zugleich. „Du freust dich wahnsinnig über die Nominierung, aber du spürst auch sofort die unheimlich hohe Verantwortung“, beschreibt Wild. „Du weißt, dass der Gewinner des Spiels einen Titel bekommt – und so eine Chance gibt es nur einmal im Jahr. Wenn du dir darüber im Spiel einen Kopf machen würdest, würdest du zerbrechen. Der Druck, die mediale Präsenz, die Kulisse: Das ist der Wahnsinn.“

Das Pfeifen hat für Wild auch dank solcher Spiele und den stets neuen Herausforderungen nie seinen Reiz verloren. „Wir wissen zwar heute besser mit so manchen Situationen umzugehen als früher, aber eine gewisse Grundanspannung ist immer da – das ist auch wichtig, um seine Leistung zu bringen“, betont er. „Ich habe letztens erst zu Fabian gesagt: Wenn wir diese Anspannung irgendwann nicht mehr haben, müssen wir sofort aufhören.“ Aktuell ist es jedoch noch nicht soweit – zumal ein großer Traum trotz der beachtlichen Liste an Erfolgen geblieben ist. Die Nominierung für ein Großturnier. „Das wäre“, sagt Wild, „wirklich schön und bleibt weiterhin eines unserer großen Ziele!“

Steckbrief Sascha Wild

Alter: 40
Beruf: Zentralheizungs- und Lüftungsbauer
Familienstand: verheiratet
Schiedsrichter seit: 1996
Gespannpartner: Fabian Baumgart
Kader: Elitekader / EHF
Karriere-Highlight: 2x Junioren-Europameisterschaft, 5x REWE Final4
Ein Traum, der in der Schiedsrichterkarriere (noch) offen ist: Für ein Großturnier im Erwachsenenbereich – Männer oder Frauen – nominiert werden.

Fotos: Marco Wolf, privat

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