Keinem geringeren als Alejandro de Tomaso gebührt die Ehre des Wegbereiters dieser Gattung. Der Argentinier, Gründer der legendären Sportwagenmarke De Tomaso, verleibte sich in der 70er-Jahren italienische Auto-Ikonen wie Ghia, Vignale, Maserati oder Innocenti sowie die Zweiradmarken Moto Guzzi und Benelli ein. Bei Benelli gab der wagemutige De Tomaso sogleich Gas und grünes Licht fürs erste Sechszylinder-Serienmotorrad der Welt: die 750 Sei. 1974 startete sie mit luftgekühltem Reihenmotor, der vom Vierzylinder der Honda CB500 abgeleitet wurde. Links und rechts kamen einfach Zylinder hinzu. Die Maschine mobilisierte 57 kW/76 PS, welche die trotz ihrer schlanken Silhouette 235 Kilogramm schwere Sei auf über 200 km/h beschleunigten.
Nicht nur die Fahrwerte beeindruckten, auch in puncto Laufkultur nahm die Sei eine Sonderstellung ein. In den fünf Produktionsjahren bis 1978 wurden sie über 3.000 Mal gebaut. Auf den Start der zweiten Sechszylindermotorrads, der Honda CBX1000 von 1978, reagierte Benelli mit der 1979 eingeführten 900 Sei, die im Vergleich zur 750 deutlich moderner wirkte und statt sechs Auspuffendrohre jeweils drei Krümmer in ein Endrohr führte. Auch bei der Höchstgeschwindigkeit musste man Abstriche hinnehmen, denn trotz Leistungsplus fuhr die über 250 Kilo schwere 900 deutlich unter 200 km/h. Auch an den kommerziellen Erfolg der 750 konnte sie nicht anknüpfen: In zehn Jahren wurde sie keine 2.000 Mal verkauft. Heute sind Originalmaschinen, egal ob 750 oder 900, auf dem Gebrauchtmarkt äußerst rar und deren Preise in der Regel fünfstellig.
In den 70er-Jahren begann die große Zeit der Japaner auch in Europa. Immer wieder sorgten die Eroberer aus Fernost mit spektakulären Neuheiten für Aufsehen. Dazu gehörte auch die Honda CBX1000, die ebenfalls einen luftgekühlten Reihensechszylinder mit allerdings 1.047 Kubikzentimeter Hubraum bot. Über 270 Kilogramm brachte die heute noch elegant und wuchtig zugleich wirkende Schönheit auf die Waage, die dank 77 kW/105 PS in 4 Sekunden die 100er-Marke und maximal 220 km/h erreicht. Mit ihrer aus heutiger Sicht fast zahm wirkenden PS-Zahl löste die CBX in Deutschland die Diskussion über eine Leistungsbegrenzung aus, die zumindest für einige Jahre in einer freiwilligen Beschränkung der Hersteller auf 100 PS mündete. Trotz des für damalige Verhältnisse stolzen Preises von 11.000 D-Mark verkaufte sich die starke Honda in ihren fünf Jahren weltweit gut 36.000 Mal, davon 6.000 Mal in Deutschland. Wohl auch deshalb ist es heute problemlos möglich, eine CBX auf dem Gebrauchtmarkt zu moderaten vierstelligen Preisen zu ergattern.
1978 war die CBX ein Paukenschlag, dem Kawasaki bereits im Frühjahr 1979 mit der Z 1300 noch eins draufsetzen konnte. Die überwuchtige Z degradierte die CBX nicht nur in puncto Hubraum und Leistung zur Statistin, sie trumpfte außerdem noch mit einer Wasserkühlung des Motors und Kardanantrieb auf. Das kostete und wog: rund 12.000 D-Mark und über 300 Kilogramm. Hohes Gewicht, mäßige Schräglagenfreiheit sowie ein bisweilen auch üppiger Verbrauch verhinderten einen größeren Verkaufserfolg. Trotzdem gilt die Z 1300 auch heute noch vielen als eine Ikone des Motorradbaus. Auch in Deutschland, wo sie aufgrund der freiwilligen Beschränkung nur 74 kW/100 PS leistete, während Biker in den USA die Super-Z mit 88 kW/120 PS fahren durften.
Obwohl die Z 1300 mit ihren Verkaufszahlen hinter den Erwartungen zurückblieb, führte sie Kawasaki über zehn Jahre im Programm, ab 1984 sogar technisch aufgewertet als ZG 1300 DFI. DFI ist der Verweis auf die elektrische Benzineinspritzung für bessere Gasannahme und weniger Verbrauch. Doch auch solche technischen Kniffe konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass Z, Sei und CBX kommerziell nur bedingt erfolgreich und technisch ohnehin eine Sackgasse waren. Entsprechend endete mit der Z 1300 auch die Ära der Sechszylinder-Naked-Bikes für lange Zeit. Ganz tot war diese Königsklasse aber selbst danach nicht.
Vorläufig hielt immerhin Honda dem Sechszylinder mit der Einführung der als Goldwing bekannten GL 1500 die Treue. 1988 griff der Cruiser das Sechszylinder-Thema in allerdings neuer Form auf: Statt eines quer montierten Reihensechszylinders kam ein 1,5-Liter-Boxermotor mit drei sich gegenüberliegenden Kolbenpaaren zum Einsatz, die in dieser Anordnung besondere Laufruhe bescherten. Doch auch längsdynamisch überzeugte der zudem langlebige Boxer in dem fast 400 Kilogramm schweren Reise- und Komfortmotorrad. Seither hat Honda sowohl den speziellen Sechsender als auch die Goldwing in zwei Generationen weiterentwickelt. Zwischenzeitlich wurde die GL-Boxer in Modellen wie der F6B oder der Valkyrie Rune verwendet. Derzeit gibt es ihn mit 93 kW/125 PS ausschließlich in der GL 1800, optional sogar in Kombination mit einer 7-Gang-Doppelkupplungsautomatik. Mit dieser Verwöhntechnik ist eine Goldwing teuer, doch ältere Exemplare kriegt man schon für mittlere vierstellige Beträge.
Komfort und ein souveräner Vortrieb standen wohl im Lastenheft der 2011 eingeführten BMW K 1600 GT – dem ersten Sechszylindermotorrad aus deutscher Produktion. Anders als bei den frühen Sechszylinder-Modellen aus Japan und Italien baute BMW die 1,65-Liter-Maschine vergleichsweise schmal und hüllte sie zudem in die Verkleidung eines Reisetourers. Weniger der Look als das Feel der großen Maschine war hier ausschlaggebend. Immerhin sprintet die 300 Kilogramm leichte und 118 kW/160 PS starke GT in 3 Sekunden auf Tempo 100 und erreicht 250 km/h Spitze. Neu kostet der erste Sechsender von BMW über 22.000 Euro, doch mittlerweile finden sich einige gebrauchte Exemplare für bereits vierstellige Summen.
2013 wurde das vorläufig jüngste Kapitel in der Geschichte der Sechszylinder-Motorräder aufgeschlagen: Mit dem Marktstart der VR6 wurde nicht nur das seit vielen Jahrzehnten erste sportliche Naked Bike mit sechs Zylindern aufgelegt, sondern zugleich die legendäre deutsche Motorradmarke Horex wiederbelebt. Wie der Modellname VR6 andeutet, sind hier erstmalig bei einem Sechsender-Bike die Zylinder v-förmig und zudem noch besonders eng angeordnet, was eine sehr kompakte Bauweise erlaubt. So ist das 1,2-Liter-Aggregat nur etwas über 40 Zentimeter breit. Zudem beeindruckt die Horex mit einer enormen Leistung von 120 kW/163 PS bei rund 250 Kilogramm Gewicht. Die Sprintzeit liegt unter 10 Sekunden – allerdings auf Tempo 200. Technisch und optisch ist die Neuzeit-Horex also imposant, doch mit aktuellen Neupreisen von mindestens 38.500 Euro auch extrem teuer. Entsprechend diesem hohen Preis, 2013 waren es übrigens nur etwas über 20.000 Euro, ist die VR6 bislang alles andere als ein Verkaufsschlager. 2014 ging die frisch wiederbelebte Marke Horex sogar in die Insolvenz, konnte allerdings wiederbelebt werden. Einige wenige Exemplare der ersten Baujahre findet man auf Online-Gebrauchtbörsen für unter 20.000 Euro.
Fotos: BMW, Honda, Horex, Kawasaki, SP-X/Ulf Böhringer