Schlagartig ändern sollte das vor genau 120 Jahren der Mix aus adrenalinhaltigem Motorsport und „Monsieur Mercédès“ – das Pseudonym, unter dem der Autohändler Emil Jellinek seine Daimler-Wagen im mondänen Nizza ins Rennen schickte. Im April 1900 entschied die Daimler-Motoren-Gesellschaft (DMG), ihre Automobile Mercédès zu nennen, denn als damals wichtigster Daimler-Kunde hatte Jellinek durchgesetzt, das neuste Modell unter dieser Bezeichnung vermarkten zu dürfen. Pate für den Markennamen war allerdings nicht er selbst, sondern seine elfjährige Tochter Mercédès Jellinek. Ein weiblicher Vorname für ein in jener Ära ausgeprägt maskulines Produkt galt als Sensation, zumal fast alle Konkurrenten ihre Motorwagen nur nach deren Erfindern benannten. Vor allem aber sorgte der erste Mercedes vom Typ 35 PS mit Motorsporterfolgen für Aufsehen, die geschickt global vermarktet wurden: Die Basis für die allererste automobile Luxusmarke, die dem Motorwagen endlich gesellschaftliche Anerkennung verschaffte bis in royale Kreise.
Dieser Mann war ein Glücksfall nicht nur für die DMG, deren Gründer Gottlieb Daimler im Jahr 1900 verstarb, sondern für die gesamte junge Automobilwirtschaft. Denn es brauchte damals Enthusiasten wie den autoverrückten und trotzdem kühl kalkulierenden Geschäftsmann Emil Jellinek, um endgültig vom Kutschen-Zeitalter in die Epoche der Automobilität zu wechseln. Gottlieb Daimler hatte das offenbar rechtzeitig erkannt, denn noch kurz vor seinem Tod hatte er Jellineks Wünsche bewilligt.
Konstruiert wurde der erste Mercedes vom genialen Ingenieur Wilhelm Maybach, der damit zugleich das erste moderne Automobil überhaupt realisierte: Die flach gestreckte Silhouette mit niedriger Motorhaube und niedrigem Fahrzeugschwerpunkt brach optisch mit dem üblichen Kutschendesign. Aber auch technisch sprang der sensationell starke Wagen in die Zukunft. So wurde der 26 kW/35 PS leistende 6,0-Liter-Vierzylinder durch Leichtmetall um fast 90 auf 230 Kilogramm erleichtert. Ein sogenannter Bienenwabenkühler beendete die bis dahin bei Autos allgegenwärtigen Kühlprobleme, sein innovatives Konzept ist bis heute aktuell. Nicht zu vergessen die neuen und gewaltig großen Trommelbremsen an den Hinterrädern, denn der Mercedes erreichte fast 90 km/h – ein damals fulminantes Tempo.
Das alles entsprach den Vorstellungen Jellineks, der obendrein den damals keineswegs selbstverständlichen Frontmotor durchgesetzt hatte, denn „der Motor ersetzt die Pferde, darum gehört er nach vorn“ – auch wenn er die Hinterräder antrieb. Der in Nizza und Wien residierende Autonarr hatte so viel Macht, weil er ab April 1900 zunächst 36 und dann 72 Mercedes-Fahrzeuge unterschiedlicher Leistungsklassen orderte und damit mehr als 60 Prozent einer kompletten Daimler-Jahresproduktion. Sein klares Ziel für den viersitzigen Mercedes 35 PS waren Siege bei der international wichtigsten Automobilveranstaltung, der Rennwoche von Nizza an der französischen Riviera. Tatsächlich triumphierte das elegante Modell mit dem Mädchennamen im März 1901 nicht nur bei den Berg- und Langstreckenprüfungen. Es deklassierte viele Konkurrenten derart, dass die Franzosen respektvoll von der Ära „Mércèdes“ sprachen. Ein Wort von Bedeutung, immerhin waren die Gallier damals die weltweit führende Autonation. Mehr noch: Die Botschaft vom bahnbrechenden Daimler für Besserverdienende und Hochadel ging über die bunten Blätter um den ganzen Globus.
Daimler erhielt für Mércèdes (anfangs mit Akzenten) 1902 Markenschutz und Jellinek die Erlaubnis, sich Jellinek-Mercedes zu nennen. Gleichzeitig waren die ersten Mercedes-Fahrzeuge mit Leistungen zwischen 8 kW/11 PS und 26 kW/35 PS weiterentwickelt worden zur Mercedes-Simplex-Modellfamilie, die ihren Beinamen erhielt wegen der für die damalige Zeit einfachen Bedienbarkeit. Konnte Daimler schon bisher kaum alle Bestellungen Jellineks bedienen, brachten die neuen Mercedes-Simplex nun noch mehr Aufträge aus aller Welt.
Ob amerikanische Millionäre wie John D. Rockefeller, John Jacob Astor und J.P. Morgan oder europäische Finanz-Hautevolee, bei Fortschrittsgläubigen positionierte sich Mercedes als erstes automobiles Premium-Label. Eine Luxusmarke, die man haben musste, denn dafür sorgte das Cuvée aus Noblesse und damals typisch männlichem Motorsport. Nicht nur in Frankreich, auch in anderen Ländern brach der Sport dem Auto Bahn, zumal wenn gesellschaftliche Protagonisten wie Prinz Heinrich, der Bruder des deutschen Kaisers Wilhelm II., ein Patronat übernahmen. An Rennen wie den „Prinz-Heinrich-Fahrten“ teilzunehmen, war eine Ehre und bereits der Erwerb von renntauglichen Automobilen bescheinigte den Käufern ein mutiges Verhalten.
Zum dreizackigen Stern als Markenzeichen fand Mercedes erst 1911, da war die Marke längst Leuchtturm für viele Wettbewerber, die ins neu erfundene Premium-Segment strebten. Heute vergessene Firmen wie Delauney-Belleville, Sage und Pillain begannen 1902 in Frankreich mit dem Bau edler Karossen für statusbewusste Bürger der Belle Epoque, den russischen Zar und andere Majestäten. Die niederländische Marke Spyker überraschte 1903 mit einem Sechszylinder und Allradantrieb, die spanische Prestigemarke Hispano-Suiza wurde ab 1904 direkt vom spanischen König Alphonso XIII. unterstützt und Isotta-Fraschini belieferte ab 1905 die Reichen und Schönen Italiens. Rolls-Royce startete in Großbritannien und Cadillac in den USA – wo der Hersteller auf den American Mercedes 45 HP traf, der als Lizenz im Land der unbegrenzten Möglichkeiten gebaut wurde. Es war ein Hype, der keine Grenzen kannte und einher ging mit anderen Markenartikeln, die sich vor dem Ersten Weltkrieg in allen Konsumbereichen etablierten. Wer sich Persil, Bahlsen, Nivea, Vivil oder das neue Schwarzkopf Shampoo leistete, zeigte seine Finanzkraft im Kleinen. Im Großen ging das mit Reisen in Luxuszügen wie dem Orient-Express, Luxuslinern á la Titanic und eben mit mondänen Automobilen.
Die Leidenschaft von Vertriebskünstler Jellinek, Hersteller Daimler und Ingenieur Maybach, der übrigens 1919 seine eigene Luxusmarke lancierte, bescherte dem Auto breite Akzeptanz. Allerdings waren nicht alle Luxusmarken langlebig. Als Henry Ford 1908 sein preiswertes Fließband-Model T vorstellte, hatte Mercedes bereits mehrere Wettbewerber überlebt. Und Jellinek wandte sich einer anderen Karriere zu – als Konsul.
Fotos: Mercedes