Während Turbos und Kompressoren im Automobilbau gang und gäbe sind, fristen sie bei Motorrädern eher ein Nischendasein. Kawasaki will das nun ändern, zumindest ein bisschen.
Der Stolz steht Projektleiter Hiroyuki Watanabe genauso ins Gesicht geschrieben wie seinem fürs Design verantwortlichen Kollegen Juichi Oyanagi: „Die Entwicklung der H2 SX ist zu hundert Prozent im Hause Kawasaki erfolgt, wir haben keine Entwicklungsaufträge nach außen vergeben.“ Das ist bei fast allen Motorradherstellern die Regel, nicht aber beim japanischen Mischkonzern Kawasaki Heavy Industries mit Sitz in Kobe: Man kann dort nämlich Schiffbau, Luft- und Raumfahrttechnik, Flugzeugbau, Maschinenbau mit Robotern, Gasturbinen, Windenergieanlagen oder Gepäckförderanlagen – und natürlich Motorräder.
Dass man mit der Strategie der Inhouse-Entwicklung auch bei radikalen Bikes erfolgreich sein kann, hat das 2014 präsentierte Superbike H2 (238 kg, 200 PS) mit Einliter-Kompressormotor gezeigt. Mehr noch aber dessen getuntes Schwestermodell H2 R; es darf mit seinen 310 PS und 120 dB/A Schalldruckpegel aber nur auf Rennstrecken bewegt werden und bedarf nach jeweils 16 Betriebsstunden über 8.000/min. eines technischen Services. Aus diesen beiden eng miteinander verwandten Modellen durften die Herren Watanabe und Oyanagi die straßenzulassungsfähige, auch für zwei Personen geeignete H2 SX entwickeln.
Kompressormotoren haben im Motorradbau zwar eine bereits beinahe 90 Jahre alte Geschichte, doch wurde bisher noch nie ein Zweirad mit Kompressor-Aufladung in Großserie produziert. Erstmals ins Rampenlicht trat die leistungssteigernde Aufladung mit der BMW WR 750 im Jahr 1929: Der Bayern-Boxer leistete mit dem im Grundsatz von Richard Schleicher entwickelten Motor bei einem Ladedruck von 2 bar bis zu 95 PS; unter diesen Umständen war es Ernst Henne im September 1929 möglich, mit 216,75 km/h einen neuen Geschwindigkeits-Weltrekord aufzustellen. In Rennen wurde der Ladedruck zugunsten erhöhter Motorhaltbarkeit auf 0,8 bar zurückgenommen, was natürlich einen Leistungsverlust bedeutete. Freilich waren die Kompressor-Boxer immer noch leistungsstärker als die nicht aufgeladenen Triebwerke der Wettbewerber.
In der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg war das Thema Aufladung auf Rennmotorräder beschränkt. Erste Serienfahrzeuge mit Turboladern brachten die japanischen Hersteller Honda, Kawasaki, Suzuki und Yamaha in den frühen 1980er Jahren. Sie legten freilich allesamt ein gewöhnungsbedürftiges Fahrverhalten an den Tag, was ihren Absatz in engen Grenzen hielt: Das sogenannte Turboloch vor dem Einsetzen der Leistungssteigerung durch die Aufladung war sehr ausgeprägt, der dampfhammerartige Leistungszuwachs brach sich in der Regel „schlagartig“ Bahn. Die Leistung der aufgeladenen Motoren, die meist einen Hubraum von 500 bis 750 Kubikzentimeter aufwiesen, lag zwischen 82 und 112 PS. Verbrauchsreduzierung blieb bei den frühen Turbotriebwerken aus Japan ein höchst theoretischer Vorteil; in der Praxis war ihr Spritkonsum extrem hoch.
Momentan experimentiert nach langer Pause Suzuki wieder mit einem Turbomotor. Das Projekt firmiert unter der Bezeichnung Recursion, wobei aus dem 600 Kubik-Reihenzweizylinder eine Leistung von 100 PS und das Drehmoment eines Tausender-Motors angestrebt werden. Der Ladedruck soll zugunsten einfacher Fahrbarkeit niedrig ausgelegt werden. Ob und wann die Recursion die Serienreife erhält, ist nicht bekannt.
Vom Kawasaki-Motor weiß man dagegen fast alles. Selbstverständlich sind die Konstruktionsprinzipien und wesentliche technische Daten wie Zylinderbohrung, Zylinderhub und damit der Hubraum von 998 Kubikzentimetern zwischen H2 SX und H2 identisch. Das Verdichterrad des Kompressors wurde zwecks Leistungsreduzierung anders gestaltet, und deshalb wurde auch das Ansaugsystem modifiziert. Viele andere Bauteile wurden jedoch komplett neu entwickelt: So sind die Kolben, der Zylinderkopf, der Lufteinlass mit den Drosselklappen, die Kurbelwelle, die Ventile und auch die Auspuffanlage völlige Neukonstruktionen. Modifiziert sind die Übersetzungen des Sechsganggetriebes. Das Verdichterrad dreht übrigens 9,8 Mal schneller als die Kurbelwelle, von der es angetrieben wird. Bei Maximaldrehzahl liegen also etwa 110.000 Touren an. Die Verdichtung des SX-Motors ist mit 11,2 deutlich höher als die des H2-Aggregats mit 8,5.
Der Motor benötigt weitaus weniger Luft zur Leistungsentfaltung, was eine positive Auswirkung auf Verbrauch und Schadstoffqualität hat. Kawasaki gibt die maximale Reichweite mit Hilfe des auf 19 Liter vergrößerten Tanks (H2: (17 Liter)) mit 333 Kilometern an, rechnerisch ergibt das einen Verbrauch von rund 5,8 Litern. Praktisch ist der Verbrauch wie auch bei aufgeladenen Otto-Motoren im Pkw extrem von der Fahrweise abhängig.
Text: Ulf Böhringer/SP-X
Fotos: Kawasaki