CD-Tipp – ESC 2016: Come Together

Beitragsbild
Foto 1

Der Sieger steht fest. Ob aus dem Triumph eine europaweite Karriere wird – wer weiß? So oder so: Die Gründe, sich alle Beiträge des Eurovision Song Contest 2016 nochmal anzuhören, auch die in den Halbfinalaustragungen ausgeschiedenen, haben mit der Frage gar nichts zu tun.

Mehr denn je fällt auf, dass der ESC, formerly known as Grand Prix Eurovision de la Chanson, ein Politikum geworden ist. Nicht nur wegen der Diskussionen um Blockvoting alias Nachbarschaftshilfe der teilnehmenden Länder, das gab's schon immer, sondern wegen des Echos, das mancher Beitrag auslöst. Ein Titel wie 1944 etwa, der ein Kriegsjahr benennt, will provozieren und erinnert damit an den Grundgedanken des Wettbewerbs: Dass es zwar um den sportlichen Wettbewerb geht, aber im Sinne eines Miteinander. Auch die Frage, ob manche teilnehmenden Länder ob ihres (fehlenden) Demokratieverständnisses überhaupt teilnehmen sollten, wird immer wieder heiß diskutiert – umso bemerkenswerter, dass sich Aserbaidschan regelmäßig in den Semis qualifiziert und einmal sogar haushoch im Finale siegte. Auch so kann musikalischer Brückenbau funktionieren – unvergessen Anke Engelke, die als Verkünderin der deutschen Jurypunkte bei der ESC-Austragung von Deutschland nach Baku im Folgejahr des Siegs dem Gastgeberland auf den Weg gab: Manchmal ist es gut, im Leben eine Wahl zu haben. Und das live, ohne die Möglichkeit, das unbequeme, höflich-deutliche Statement herauszuschneiden.

Ebenso auffallend ist, dass viele Länder Jahr für Jahr keine Mühe scheuen, ihre Top-Stars zu mobilisieren. Da tritt 2016 beim Beitrag für Bosnien-Herzegowina eine der landesweit besten Cellistinnen mit auf – dass die Band das Finale verpasst, ist halb so wild. In Erinnerung bleiben wird's allemal. Eine Konsequenz aus solchen Anstrengungen ist: Die Faustregel von früher, nach der aus vieren der Big Five, also Großbritannien, Frankreich, Spanien und Italien, der Sieger kommen werde, Deutschland hoffentlich ein paar Punkte abstauben werde und der Rest unter ferner liefen zu finden sei, gilt längst nicht mehr. Auch nicht die Faustregel, dass Skandinavien es sowieso, sprich: alle Länder, ins Finale schaffen.

Schließlich, und das darf nicht verschwiegen werden, ist der ESC bei allen Veränderungen in einer Hinsicht konstant geblieben, als Bühne für Trash, der so daneben ist, dass es schon wieder Charme hat. Das bezieht sich zunehmend auch auf Outfits, die oftmals der Devise folgen: Hauptsache, es fällt auf. Da trägt frau schon mal eher Zelt oder Geschenkpapier als Kleid, werden Männer symbolisch hinter Gitter verfrachtet – das Auge soll ebenfalls was vom Wettbewerb haben. Das gehört zur veränderten ESC-Kultur und dient nicht (oder nicht immer) dazu, einen akustisch eher dürftigen Beitrag wenigstens optisch aufzuwerten.

So bietet Come Together (auch ein Motto, das Zusammengehörigkeit symbolisiert, ist heute ESC-selbstverständlich) ein wirklich repräsentativ-buntes Bild von dem, was in Sachen Pop europaweit anno 2016 geboten wird. Indie-Rock und Elektropop inklusive. Und: Die Zeiten der mehr oder minder liebesliedlastigen Beiträge scheint endgültig vorbei. Die Ukraine widmet ihren Beitrag 1944 einem sehr düsteren Beitrag ihrer Geschichte, die junge Norwegerin Agnete singt über die Dunkelheit der Depression. Das sind echte – und wichtige – Tabubrüche. Zu hören sind sie auf diesem Tonträger, egal, ob fürs Finale qualifiziert oder im Vorfeld ausgeschieden.

Diverse: Come Together. ESC 2016 (Universal Music)

Scroll to Top