Es gibt Fahrzeuge, deren Name schlichtweg eine (ungewollte) Irreführung des Konsumenten ist, wenn sie sich ausschließlich an der Karosserieform orientiert. Zumindest dann, wenn die schlichte Kennzeichnung des Produktes nicht all jene Attribute offenbart, die es eigentlich auszeichnen. Die ihn über das Mittelmaß des Segmentes hinaus heben. Natürlich ist der Audi RS6 Avant, um den es hier in der Folge geht, ein Kombi. Ein Familienfahrzeug. So wie eben alle Automobile der Ingolstädter, die diese Zusatzbezeichnung tragen.
Aber genauso wie bei Lionel Messi die Berufsbezeichnung „Fußballspieler“ in der Causa zwar korrekt, de facto aber hoffnungslos untertrieben formuliert ist, trifft das auch in diesem Falle zu. Während der Argentinier als die Fleisch gewordene Perfektion im Umgang mit dem runden Lederball gilt, verbindet den RS6 Avant lediglich der (mehr als ausreichende) Inhalt des Kofferraums, gemessen in Litern, noch mit dem Begriff Kombi. Der Rest, also das, worauf es in diesem Falle ankommt, offenbart sich als Chamäleon. Als reinrassiger Sportwagen, der sich der bewusst gewählten Attitüde der Selbstverleugnung bedient.
„Flotte“ Familienkombis sind bei Audi eigentlich seit geraumer Zeit ein Markenzeichen. 2002 stellten die Ingolstädter den RS6, sowohl als Limousine, aber auch als eine aufgewertete Version „plus“ vor. Auf diesem dubiosen Feld hoch gezüchteter Manager-Mobile mit mal mehr, mal weniger Kofferraum schlug sich Audi über Jahre in einem exklusiven Duell mit BMW 5 oder Mercedes SLS Shooting brake herum. Dennoch: Der Audi RS6 ist so etwas wie der Urahn, „das Original“, dieser Spezies. Ein wenig ist es wie mit den sattsam bekannten Schwyzer Kräuterbonbons: Wer hat’s erfunden? Die Ingolstädter!
Allerdings können die hauseigenen Ingenieure nicht mehr so unbekümmert in der Wundertüte mit den vielen starken „Pferdchen“ herum wühlen, wie das einmal der Fall war. Auch derlei Hochleistungs-Kombis müssen inzwischen in das Bild einer halbwegs Vernunft-angepassten und ökologisch vertretbaren Fahrzeug-Gattung passen. Das verlangt auch in einem Konzern, der mit der Produktion von Ein-Liter-Fahrzeugen für „grüne Restriktionen“ eintritt, die political correctness.
Was zur Folge hat, dass im neuen RS6 Avant der Zehnzylinder des Vorgängers aus dem Lamborghini dem Down-Sizing-Prinzip zum Opfer fiel. Beatmet wird er stattdessen von einem V8-Biturbo mit vier Litern Hubraum und einer effektiven Zylinderabschaltung im Teillastbereich. Aus dieser Selbstbeschränkung und des um 100 Kilogramm gesenkten Gewichtes resultiert eine Verbrauchsminderung von fast einem Drittel. Dennoch bleibt der 1.920 Kilogramm schwere RS6 Avant nichts anderes als ein Sportwagen mit Familien-Eignung. Audi gibt den Normverbrauch mit 9,8 Litern auf 100 Kilometer an, was zumindest den Herren aus der Marketingabteilung ein anerkennendes Kopfnicken abverlangt.
Der neue Achtzylinder stemmt im Vergleich zum Vorgänger mit 560 PS zwar 20 „Pferde“ weniger auf die Antriebswelle, glänzt dafür aber mit einem unglaublichen Drehmoment von 700 Newtonmetern. Damit geht es innerhalb von 3,9 Sekunden von Null auf 100 km/h. Der Sprint auf 100 km/h wird nach dem Betätigen des Starterknopfes, das von einem leisen, verdächtigen Grummeln und Wummern begleitet wird, in 3,9 Sekunden erledigt. Mit dem auf Wunsch erhältlichen Dynamikpaket geht es bis zur V-Max von 305 km/h hinauf.
Doch das Fahrzeug ist nicht nur etwas für extreme Gaspedal-Treter, die sich am scheinbar unendlichen Höhenflug der Tachonadel nicht satt sehen können. Der oberbayerische Kampf-Kombi fordert und fördert auch den Technik-Liebhaber im schmalen Schalensitz hinter dem abgeflachten Volant. Wer möchte (und es auch möglichst tun sollte, um es einmal zu erleben), der kann auch aus dem Asphalt-Zehnkämpfer über das Multifunktions-Display eine leise, kommode und gezähmte Familienkutsche für den Sonntagsausflug machen. Denn dort sind die elektronischen „Schubladen“ für die Motorcharakteristik, die Getriebeabstufung oder die Fahrwerksabstimmung untergebracht.
Das Kind im Manne wird neben der „Dynamic“ und „Comfort“-Regelung für den Allradler besonders über den Sound-Modulator in Verzücken geraten. Über einen optionalen Aktuator wird das leidenschaftliche Getöse des zweifach aufgeladenen Achtzylinders in den Innenraum übertragen. Über entsprechende Klappen in beiden Endschalldämpfern wird dann auch die staunende Umgebung kostenlos mit dem „Concerto grosso“ versorgt.
Wer sich ein solches Fahrzeug zum Basispreis von 107.900 Euro mit der nicht ganz zutreffenden Bemerkung „Kombi“ zulegt, gehört mit Sicherheit zu den Besserverdienern im Lande. Und zu jenen Menschen, die nicht unbedingt zeigen wollen und müssen, zu was sie denn eigentlich fähig sind. PS-Gourmets eben. Feinschmecker.
Text und Fotos: Jürgen C. Braun