Mercedes: 50 Jahre 230 SL

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Er stand am Anfang einer Zeitenwende. Der Mercedes-Benz 230 SL sollte vor einem halben Jahrhundert nicht nur die Nachfolge des legendären Roadsters 300 SL und des rundlich-femininen 190 SL antreten. Vielmehr führte der unter dem Einfluss des genialen Konstrukteurs Béla Barényi und des jungen Stardesigners Paul Bracq entstandene neue SL auch innovative Sicherheitstechniken wie Knautschzonen und feine Formen zeitloser Eleganz ein.

Mit klaren Linien und einem ätherisch leicht und licht wirkenden Dachpavillon vollzog der Franzose Bracq eine Neuausrichtung des Automobildesigns, das sich von den rundlichen Formen der fünfziger Jahre und von betont maskulinen Wettbewerbern wie Jaguar E-Type oder Chevrolet Corvette deutlich differenzierte. Zur Sensation geriet vor allem die Gestaltung des SL-Hardtops, das nach innen gewölbt war und deshalb an das Dach eines fernöstlichen Tempels erinnerte. „Style Pagode“ kommentierte die französische Zeitung L'Equipe anlässlich der Weltpremiere des leuchtend orange lackierten 230 SL mit schwarz abgesetztem Hardtop in den gediegenen Hallen des Genfer Salon. Andere Medien schrieben „Mercedes 230 SL – der Star von Genf“ oder „Charme und Sport auch für Damen“ – schließlich stahl der Stuttgarter-Roadster den maskulinen Fahrmaschinen von Aston Martin und Jaguar auf den Nachbarständen die Show. Der Auftakt für eine Ausnahmekarriere.

Mit luxuriöser Ausstattung, souveräner Sechszylinder-Motorisierung, Zuverlässigkeit und sportlichen Fahrtalenten war der 230 SL das Bindeglied zwischen wenig alltagstauglichen Supersportwagen und soften Boulevardcruisern. Die Basis für eine achtjährige Erfolgsgeschichte, in der Mercedes rund 49.000 Einheiten vom 230 SL und seinen Evolutionsstufen 250 SL und 280 SL verkaufte – 15 Mal mehr als vom kostspieligeren Vorgänger 300 SL.

Obwohl nominell 65 PS schwächer als der 300 SL, demonstrierte der 110 kW/150 PS entwickelnde 230 SL in Tests ähnliches Temperament wie sein Vorgänger. Dies nicht nur mit damals eindrucksvollen Sprintwerten von neun Sekunden von null auf 100 km/h, sondern auch durch reichlich Ruhm bei Rallyes und Rundstrecken. So erzielte Mercedes-Benz-Chefentwickler Rudolf Uhlenhaut 1963 auf der ultrakurzen Rennstrecke von Annemasse-Vétraz-Monthoux eine Rundenzeit von 47,5 Sekunden und lag damit nur 0,2 Sekunden hinter dem Zwölfzylinder-Ferrari 250 GT des Grand-Prix-Piloten Mike Parkes.

Bei der damals härtesten Rallye der Welt, der 6.600-Kilometer-Fernfahrt Spa-Sofia-Lüttich, gewann der 230 SL im gleichen Jahr unter Eugen Böhringer sogar den Siegerkranz. 1964 musste sich Böhringer zwar mit Platz drei begnügen, dafür distanzierte Dieter Glemser 1965 die gesamte Konkurrenz auf der Akropolis-Rallye – bis ihn falsche Richtungshinweise der Polizei die Führung kosteten und auch er auf dem dritten Platz landete. Dennoch genügend sportlicher Lorbeer, um die Baureihe mit dem internen Code R 113, auch für leistungsbewusste Sportwagenfahrer begehrenswert zu machen.

Immerhin zelebrierte der Open-Air-Star sein offizielles Deutschland-Debüt auf der IAA 1963, also parallel zur Premiere des damals noch 901 genannten Porsche 911. Diesen betrachtete Mercedes als wichtigsten deutschen Konkurrenten, zumal beide Sechszylinder in der gleichen Leistungs- und Preisliga spielten. 21.700 Mark berechnete die Marke mit dem Stern 1963 für den 230 SL, 200 Mark weniger als der Porsche 911 kosten sollte. Geradezu ein Sonderangebot war der SL im Vergleich zu den Supersportwagen Ferrari 250 GT (ab 49.800 Mark) und Jaguar E-Type (ab 26.000 Mark), mit denen er aber auf Märkten wie Nordamerika immer wieder verglichen wurde. Dort erfreute sich der SL auch als sogenanntes California Coupé ohne Roadsterverdeck, aber mit Hardtop besonderer Beliebtheit. Kaum eine Rolle gespielt haben dürfte dabei, dass die Stuttgarter den Verdeck-Verzicht mit 750 Mark Minderpreis belohnten.

Wichtiger waren Optionen für mehr Fahrkomfort, darunter zwei hintere Notsitze statt der nüchternen Ablage und eine aufpreispflichtige Getriebeautomatik, die den 230 SL für „die zarte Hand der Damen geeignet“ machte, wie die zeitgenössische Presse nach ersten Testfahrten begeistert notierte. Wie fast alle Sportwagen wurde die Pagode damals zwar vor allem von Männern gekauft, gefahren und geliebt wurde sie aber fast gleichermaßen von Frauen. Die Dame von Welt nutzte den schönen Sonnenkönig zum Schaulauf auf den Shoppingmeilen vom Kurfürstendamm über Kö und Croissette bis zum Hollywoodboulevard. Auch Kinostars wie Doris Day, Sophia Loren oder Senta Berger zeigten sich auf der Leinwand und im wirklichen Leben nur allzu gerne am Lenkrad der Pagode. Tatsächlich kombinierte der 230 SL die Talente des unproblematischen Tourenwagens mit denen des schnellen Sportlers nahezu perfekt. Die leichtgängige Kugelumlauflenkung mit optionaler Servohilfe überzeugte die zeitgenössischen Tester ebenso wie die damals besonders groß dimensionierten 14-Zoll-Räder mit serienmäßigen Gürtelreifen (erstmals bei Mercedes) und der hohe Langstreckenkomfort des mit profaner Großserientechnik aus der damaligen S-Klasse ausstaffierten SL. Vorläufig vorbei waren die Zeiten der kostspieligen technischen Extravaganz des 300 SL als Urvaters der „Sport Leicht“-Baureihe.

Entsprechend konzentrierten sich Kritiker des Neuen jetzt auf Kleinigkeiten wie den Tank, der nur 65 Liter fasste und den Wunsch nach hinteren Scheibenbremsen. Auch da sorgte Mercedes für Abhilfe, mit der ersten Modellpflege im Herbst 1966 gab es eine entsprechend modifizierte Bremsanlage, einen 82-Liter-Tank und einen nominell gleichstarken 2,5-Liter-Einspritzmotor. Obwohl der jetzt 250 SL genannte Sechszylinder nun sieben statt vier Kurbelwellenlager aufwies, war sein Motorlauf rauer, so das Urteil mancher Medienberichte.

Nur ein Jahr später gab es auch in dieser Hinsicht nichts mehr zu kritisieren. Die Pagode mutierte zum 280 SL mit 125 kW/170 PS entwickelndem 2,8-Liter-Sechszylinder und verfügte damit über zehn PS mehr Leistung als der neue Porsche 911 S. In Sachen Fahrdynamik war der leichtgewichtige Zuffenhausener zwar dennoch deutlich überlegen, bei den Verkaufszahlen fuhr jedoch der SL weiterhin vorn. Das Potential des R 113 demonstrierte Mercedes mit zwei interessanten Versuchsträgern: 1965 implantierte Chef-Entwickler Uhlenhaut den 184 kW/250 PS starken 6,3-Liter-V8 aus der Repräsentationslimousine Mercedes 600 in den kompakten 250 SL. Das Ergebnis war Deutschlands schnellster Supersportwagen, leider machte der schwere Motor das Auto zu kopflastig. Versuchsträger blieb auch ein 280 SL mit 152 kW/206 PS leistendem Wankelmotor, der ab 1968 erprobt wurde.

So blieb es bei kleinen optischen Aktualisierungen wie neuen Fuchs-Leichtmetallrädern, an denen die letzten Jahrgänge des 280 SL zu erkennen waren, ehe die zierliche Pagode 1971 den massigen Chromkreuzern der Roadsterserie R 107 Platz machte. Nahezu 40 Prozent der Pagoden-Produktion war nach Nordamerika verkauft worden. Dort galt der Roadster als so zeitlos, dass er noch rund zehn Jahre automobiler Hauptdarsteller in diversen TV-Filmen blieb. Für alle Fans ist er bis heute einer der schönsten Stuttgarter Sterne.

Text: SPot Press Services/Wolfram Nickel
Fotos: Mercedes/SPS

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