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Tradition: 20 Jahre Renault Twingo – Kuscheltier mit Kulleraugen

Geniale Kompakte wie der kastenförmige R4 und der „Kleine Freund“ R5 hatten Renault in der kleinen Klasse groß gemacht und freche Farbkleckser in den grauen Großstadtasphalt der Sechziger und Siebziger gebrannt. Kaum weniger bahnbrechend war der Renault Espace von 1984. Er machte Raum zum Programm, vor allem aber verband seine „Monospace“ genannte Einvolumen-Karosserie erstmals das Platzangebot eines Transporters mit dem Komfort einer Limousine. Vielleicht war es deshalb nur konsequent, dass Renault 1992 das Beste aus diesen Konzepten kombinierte. Diesmal mit einem charmanten Mini, der durch die Monospace-Bauweise im Innenraum zum Maxi wurde.

„Twingo, der macht die Welt verrückt“, kündigte die Renault-Werbung den neuen Kleinwagen an. Nicht ganz zu Unrecht, verzauberte der 3,43 Meter kurze Stadtflitzer das Premierenpublikum auf dem Pariser Salon doch nicht nur durch seine innere Größe und bunte Farben, sondern auch mit Schweinwerfern in Form fröhlich blickender Kulleraugen. Die charmante Frontgestaltung nach den Formen des Kindchenschemas machte den Twingo begehrenswert und ließ über anfängliche Defizite wie den jahrzehntealten Vierzylinder hinwegsehen.

Modische Sondermodelle und technische Auffrischungen bescherten dem schicken Star in der Zwergenparade aus Nissan Micra, Ford Ka oder Citroën Saxo ein langes Leben. Fast 2,5 Millionen Käufer konnte der kleine Renault in 15 Jahren gewinnen, davon über 500.000 in Deutschland, erst dann zeigte sich die zweite Twingo-Generation in neuem Jugend-Stil. Ein ultimatives Trendmobil wie der Ur-Twingo ist der erwachsener wirkende Neue nicht mehr, Erfolge kann er aber dennoch bis heute einfahren.

„Twingo wird für viele wie ein Haustier sein“, erklärte der Renault-Chefdesigner und Kleinwagen-Projektleiter Patrick Le Quément als er den finalen Prototypen X-06 seinem Konzernchef Raymond Lévy präsentierte. Mit einem Mini-Budget von 700 Millionen Dollar hatte Le Quément ab 1987 aus einem seit einem halben Jahrzehnt dahindümpelnden Projekt in nur vier Jahren einen unverwechselbaren Cityflitzer mit niedlichem Gesicht geformt und zur Serienreife gebracht.

Außen war der Twingo kürzer als fast alle Konkurrenten – so maß er etwa 27 Zentimeter weniger als das spätere Konzernschwestermodell Nissan Micra. Dennoch überraschte er mit Platz für bis zu vier Passagiere. Möglich machten dies der lange Radstand, ungewöhnlich breite Türen für bequemen Einstieg und eine um 17 Zentimeter verschiebbare Rücksitzbank zugunsten größerer Beinfreiheit im Fond. Umzugs- und möbelhaustauglich wurde der Twingo durch das maximal 955 Liter fassende Gepäckabteil.

Als frech-fröhlicher Verführer gab sich der unkonventionelle Gallier auch im Cockpit, das von einer zentral platzierten, digitalen Kombianzeige auf der Oberseite des Armaturenträgers bestimmt wurde. Spiegelte der Mini einst bis ins Cockpit englische Exzentrik, so faszinierte der Twingo durch französischen Futurismus. Und durch Purismus. Eine einzige Ausstattungslinie, eine Motorversion mit 40 kW/55 PS und nur zwei Extras (Klimaanlage und Faltdach) gab es für den bonbonbunt lackierten Twingo, den auch ein günstiger Basispreis von 16.000 Mark für viele unwiderstehlich machte.

Über 2.500 Messebesucher bestellten den niedlichen Renault noch auf dem Premierenpodium des Pariser Salons. Billig blieb die erste im französischen Werk Flins gefertigte Twingo-Generation übrigens bis zum Ende ihrer 15-jährigen Laufzeit: Nur 9.200 Euro kostete der Ur-Twingo als 2007 ein völlig neuer Twingo auf Clio-Basis und aus slowenischer Produktion die Nachfolge des einstigen Trendsetters übernahm. Unverwüstlich scheint der erste Twingo dagegen in Südamerika, wo die Bänder im kolumbianischen Envigado bis heute weiter laufen.

Scheinbar ewige Jugend schenkten dem Twingo regelmäßige Modellpflegen mit Aufrüstung der Sicherheitsausstattung, ein auf 43 kW/60 PS erstarkter Basismotor (ab 1996), ein noch kräftigerer 55 kW/75 PS leistender 16-Ventiler (ab 2000) und die regelmäßigen Besuche bei prominenten Modecouturiers. 1994 kündigte Renault an, alle zwei Jahre eine neue, limitierte Twingo-Kollektion auf den Laufsteg der Autohäuser zu schicken. Den Anfang machten Kenzo, Benetton und Elite bis 1999 die Abschlussklasse der berühmten Pariser Designschule „École Supérieure des Arts et Technique de la Mode“ (ESMOD) die Rollen wechselte. Die Schüler von ESMOD kleideten nicht den Twingo ein, sondern sie ließen sich durch dessen Farben und Formen zu femininen Partykleidern inspirieren.

Andererseits wartete der automobile Modemacher nach einem gründlichen Facelift im Jahr 1998 selbst mit gänzlich neuer Couture auf. Renault spendierte seinem Modell erstmals fünf verschiedene Ausstattungsniveaus, darunter auch die noble Version Initiale. Mit Klimaanlage, Ledersitzen und optionalem Navigationsradio brachte der Twingo einen Hauch großer Klasse ins automobile Einsteigersegment. Luxus und Lifestyle wie ihn die Kleinwagenwelt zwar seit den ersten Edelausgaben des englischen Mini kennt, der sich letztlich aber erst heute durchsetzt.

Auch abseits der Asphaltboulevards tanzte das Multitalent Twingo – sein Name steht für Twist, Swing und Tango – ähnlich wild wie der kleine Engländer in den Swinging Sixties. Etwa als fauchendes und Feuer speiendes Ungetüm im Vorprogramm des 24-Stunden-Rennens auf dem Nürburgring. Bestückt mit einem 2.200 PS leistenden Düsenjäger-Triebwerk glühte ein über 300 km/h schneller Twingo-Jet 1999 die Start- und Zielgerade hinunter. Im Frühjahr 1995 krönte ein Twingo-Katamaran das Rahmenprogramm der Filmfestspiele in Cannes. Angetrieben von zwei 150 PS starken Mercury-Außenbordern kreuzte ein Twingo Marine mit bis zu 30 Knoten (55 km/h) vor der Küste der französischen Festivalstadt. Umbauten zu Showcars wie Pickups, Landaulette-Cabriolets, Feuerwehrfahrzeuge, Drag Racer und Lowrider nehmen sich da schon fast gewöhnlich aus. Bei europäischen und französischen Rallyeserien startete ein 118 kW/160 PS leistender Twingo mit Technikkomponenten aus dem Clio RS und bei der legendären französischen Eisrennserie „Trophée Andros“ holte er sich mehrere Klassensiege. Derweil sorgte ein Twingo mit Motorradtechnik bei Kartrennen für Furore.

Vielleicht fühlte sich Renault durch diese spektakulären Racer dazu animiert, die zweite Twingo-Generation 2011 mit einer sportlich-scharfen Gordini-Version nachzuwürzen. Denn ein bisschen bieder wirkte das 2007 eingeführte Einsteigermodell schon, bis Sondermodelle, Designstudien und der Open-Air-Star Renault Wind etwas vom Glanz früher Twingo-Jahre zurückholten. Oft ist der 20. Geburtstag ein kritisches Alter für Massenmodelle, zu jung für den Youngtimerstatus und zu alt für die Herausforderungen des automobilen Alltags. Nicht so beim Twingo der ersten Generation. Sein scheinbar eingebauter Kultstatus und seine überraschende Langlebigkeit bewahren ihn vorläufig davor, in zu großer Stückzahl beim Autoverwerter zu verschwinden.

Text: Spot Press Services/Wolfram Nickel
Fotos: Renault

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