Nissan: 40 Jahre Cherry

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Es waren die Tage des traditionellen Kirschblütenfestes als die Nissan-Manager ihr Startaufgebot für die Eroberung des deutschen Marktes definierten. Speerspitze beim Vorstoß auf das 123. und vielleicht schwierigste Exportland sollte im Sommer vor 40 Jahren der Cherry („Kirsche“) werden, Nippons erster moderner Mini, der technisch sogar den meisten europäischen Kleinwagen vorausfuhr. Mit Frontantrieb, quer eingebautem und ebenso munterem wie sparsamem 33 kW/45 PS-Vierzylinder sollte der gefällig gezeichnete Cherry schon im Vorfeld alle Vorurteile gegenüber der Marke Datsun, unter der die Nissan-Modelle anfänglich exportiert wurden, ausräumen. Schließlich wurden japanische Autos damals hierzulande oft genug noch als Reisschüsseln verspottet.

Als aber der Cherry in Vergleichstests den modischen Kult-Kleinwagen Renault 5 schlug und gleichzeitig der sportliche Imageträger Datsun 240Z bei der Safari-Rallye den Porsche 911 davonfuhr, schlug die öffentliche Meinung um: Nissan/Datsun und die anderen japanischen Marken wurden nun erstmals in Europa als „gelbe Gefahr“ bezeichnet. Zumindest was Nissans Kompetenzen im Kleinwagenbau anging, war dies nicht ganz unberechtigt. Der Cherry entwickelte sich zum frühen japanischen Bestseller, der zu erschwinglichen Kosten und in konkurrenzloser Karosserievielfalt als erster Datsun in Deutschland über 100.000 Zulassungen erzielte.

In vier Generationen und sogar mit Alfa-Romeo-Logo sorgte der Cherry in Europa für Furore, dann machte er 1986 Platz für gleich zwei Nachfolger, den etwas größeren Sunny mit Schrägheck und den frech-fröhlichen Micra als neuen Liebling weiblicher Autofahrer. Erfolgreich war der Cherry nicht nur in den Verkaufsstatistiken, er war auch Musterknabe in Mängellisten der deutschen Prüf- und Pannendienste. Was ihn am Ende aber nicht davor feite, verschrottet und vergessen zu werden, so wie andere Massenautos ohne Aura.

Als er endlich nach Deutschland kam, war der Cherry in seiner Grundkonzeption bereits sieben Jahre alt. Als ebenso praktisch wie pfiffig gestyltes Stadtauto mit Frontantrieb sollte der Cherry ursprünglich die japanische Premiummarke Prince in den kleinen Klassen etablieren und dem Erfolg des auch in Japan bewunderten englischen Mini nacheifern. Prince war allerdings Mitte der 1960er Jahre von Nissan übernommen worden und so wurde der Cherry 1970 zum schicken Lifestylemobil mit Nissan bzw. Datsun-Signet. Im damals eher biederen und konservativen Kleinwagenangebot japanischer Marken wurde der ebenso praktisch wie pfiffig gezeichnete Nissan Cherry 100A ein Volltreffer, der modebewusste Frauen ebenso ins Herz traf wie karrierebewusste junge Männer, die ihr steuer- und abgabenbegünstigtes 360-ccm-Kei-Car gegen ein vollwertiges, familientaugliches Fahrzeug tauschen wollten.

Zudem gab es den Cherry schon bald als zwei- und viertürige Stufenhecklimousine, als geräumigen dreitürigen „Combi“ mit fast extravaganter Linienführung und als exaltiert gezeichnetes und leistungsstärkeres Coupé 120A, das sogar motorsportlichen Ansprüchen genügte und bei nationalen Rennserien startete. In Europa sammelte der Cherry dank seiner robusten Konstruktion später sogar einige Lorbeeren bei Rallye-WM-Läufen. Einen Cherry als Dream Car enthüllte Nissan dagegen 1970 auf der Tokyo Motor Show in Form des futuristischen 270X. Ein Konzept-Fahrzeug, das auch die Amerikaner auf den ersten wirklich kleinen Nissan/Datsun einstimmte. In den USA wurde der winzige Japaner über rund 1.000 Händler angeboten und fand vor allem in Coupéform als kleiner Bruder der legendären 240Z- bis 300Z-Sportwagen erstaunlich viele Liebhaber.

Die Limousine und der Combi wiederum boten auf nur 3,61 Metern Länge Platz für vier Erwachsene und viel Gepäck, das bequem durch die weit aufschwingende Kofferraumklappe bzw. die Hecktür eingeladen werden konnte. Dank kleinen Wendekreises von nur 9,2 Metern und auch in Testberichten gelobter Übersichtlichkeit wieselte der flotte Fronttriebler flink durch den Verkehr und in knappe Parklücken. So konnte der Cherry sogar in den Heimatländern von Rivalen wie Peugeot 104 oder Fiat 127 und 128 Achtungserfolge erringen – obwohl die Südeuropäer ihre Automobilkonzerne mit allen handelspolitischen Mitteln vor japanischen Importen schützten.

Dann wurde der Cherry F-II vorgestellt und Nissan erlebte ein kleines Desaster. Technisch hatte sich die zweite Cherry-Generation von 1974 kaum verändert, optisch war sie aber in derart barocke Kleider gehüllt, dass nicht einmal die Amerikaner Gefallen an dem kleinen Datsun fanden. In Deutschland blieb bis Ende 1977 der erste Cherry parallel im Angebot, dann dauerte es zwei Jahre, ehe Nissan mit der dritten Cherry-Generation wieder in der kleinen Klasse punkten konnte. Die einstige Alleinstellung im Markt war jedoch verloren. In der Zwischenzeit hatten andere japanische Marken wie Daihatsu mit dem Charade, Mazda mit dem 323, Mitsubishi mit dem Colt und Honda mit dem Civic kompakte und modisch schicke Drei- und Fünftürer präsentiert, gegen die sich der sachlich gezeichnete Cherry, der in Japan nun Pulsar genannt wurde, erst einmal durchsetzen musste. Mit vergleichsweise günstigen Preisen und einem üppigen Gewährleistungspaket, darunter eine damals in dieser Klasse konkurrenzlose Fünf-Jahres-Garantie gegen Durchrostung, fand die 3,90 Meter lange Modellreihe aber schließlich ausreichend viele Liebhaber, um 1982 noch einmal erneuert zu werden und erstmals direkt gegen den Golf anzutreten.

Als kantig, aber elegant gezeichnete Drei- und Fünftürer mit optionaler Zweifarbenlackierung suchte die vierte Cherry-Serie nach der Lücke im Nissan-Programm zwischen dem gleichzeitig lancierten Kleinwagen Micra und dem kaum größeren Sunny. Tatsächlich basierte der letzte Cherry bereits auf dem Sunny, den es als Stufenhecklimousine, Kombi und Coupé gab. In den Ruhestand geschickt wurde der schicke, jetzt sogar zweifarbige Cherry aber erst, als der Sunny 1986 auch in drei- und fünftüriger Version debütierte.

Zuvor jedoch hatten die japanischen Kirschen noch einmal für Schlagzeilen gesorgt, die nicht nur im Piemont einen bleibenden bitteren Beigeschmack hinterließen. Alfa Romeo suchte Anfang der 1980er Jahre nach einem betont preiswerten Einstiegsmodell als Ersatz für den alternden Alfasud. Nissan wiederum suchte damals nach Möglichkeiten, drohenden Einfuhrbeschränkungen für japanische Automobile in die europäische Union zu begegnen. Als seit 1975 größter japanischer Anbieter in Europa mit stetig steigenden Absatzzahlen wäre Nissan von derartigen Handelshindernissen besonders betroffen gewesen. Die vermeintliche Lösung der japanisch-italienischen Probleme lautete ARNA, ein Akronym für Alfa Romeo Nissan Autoveicoli. Im Alfa-Werk Pratola Serra bei Neapel wurde der Cherry mit Motor, Getriebe und Vorderradaufhängung vom Alfasud kombiniert und anschließend je nach Vertriebskanal als Alfa Arna oder Nissan Cherry Europe verkauft. Sogar nach Japan fand der Bastard als Nissan Pulsar Milano. Keine zwei Jahre später war der Spuk vorbei, denn dem Arna fehlte die Seele des Alfa und die Qualität des Nissan. Deutlich länger dauerte es, bis die letzten Ladenhüter aus den Schauräumen der Händler verschwunden waren.

Text: Spot Press Services/Wolfram Nickel
Fotos: Autodrom Archiv, Nissan, SPS

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