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Es war ein Jahrhundertsommer wie ihn Europa seit den Pioniertagen des Automobils noch nicht erlebt hatte. Vor 40 Jahren erhitzten hohe Temperaturen und ausgedehnte Waldbrände die Gemüter, gleichzeitig drängte eine ganze Armada neuer heißblütiger Sportwagen in die Schauräume der Autohändler. Fast alle Volumenhersteller nutzten neue Coupés als Imageträger, um den Absatz von Massenmodellen zu beschleunigen. Für Volvo Anlass, das noch aus den 1950er Jahren stammende Sportcoupé P 1800 im Juni 1972 endgültig in den Ruhestand zu schicken und den Nachfolger 1800 ES stärker in die Schlagzeilen zu bringen. Vorgestellt worden war der Sportkombi 1800 ES zwar bereits im vorhergehenden Herbst, zum leuchtenden Stern am Sportwagenhimmel avancierte er jedoch erst nach dem Ableben des Stammvaters. „Schneewittchensarg“ nannten Presse und Publikum den extravaganten Shooting Brake mit der einzigartig großen gläsernen Heckklappe ohne Rahmen, aber auffällig platziertem Chromgriff. Ab der B-Säule bestimmte lichte Glasarchitektur das gestreckte und flache Kombiheck, das den vielseitigen Volvo schon im Stand schnell aussehen ließ, zumal die scheinbar endlos lange Motorhaube einen Sportmotor mit viel Leistung versprach.

Ein Versprechen, das der Shooting Brake ebenso wie schon das Volvo P 1800 Coupé, mit dem der ES bis auf das eigenwillige Heckdesign baugleich war, nur teilweise einlösen konnte. So entwickelte der 2,0-Liter-Vierzylinder-Benziner 91 kW/124 PS und damit immerhin fast so viel Kraft wie damals ein Porsche 911 T. Andererseits erinnerte der etwas raue Motorlauf des betagten nordischen Einspritzers mit untenliegender Nockenwelle eher an einen rustikalen Lastenkombi als an einen sportiven Lifestyletransporter, zumal die Höchstgeschwindigkeit von 185 km/h deutlich unter der damals noch imageträchtigen 200-km/h-Schallmauer lag. Tatsächlich sahen die sportlichen Volvo der 1800er Serie schon immer schneller aus als sie waren. Deshalb gelang es dem Coupé P 1800 in einem Filmcasting sogar, den ursprünglich nominierten E-Type zu verdrängen. In der von 1962 bis 1969 in über 70 Ländern ausgestrahlten Kult-TV-Krimiserie „The Saint“ (Simon Templar) waren Roger Moore und sein kultiges Schwedencoupé die Hauptdarsteller. Roger Moore begeisterte sich spontan so sehr für den vom Schweden Pelle Pettersson beim italienischen Stardesigner Frua gezeichneten Zweisitzer, dass er sich auch privat einen P 1800 zulegte. Eine bessere und noch dazu kostenlose weltweite Werbung hätte sich Volvo für sein schon 1957 entworfenes und ab 1961 ausgeliefertes Coupé nicht wünschen können. Als der internationale Bildschirmruhm schwand und der P 1800 wegen seines überlebten Heckflossendesigns allmählich in den Verkaufsstatistiken nach hinten durchgereicht wurde, suchte Volvo nach einem finanzierbaren Nachfolger. Die Entwicklungskosten der 140/160er Modelle hatten gerade die Kriegskasse geplündert, weshalb sich die Göteborger Konzernführung mit einer Evolution des Coupés begnügen wollte. Statt des sonst üblichen Facelifts sollte ein spektakuläres „Backlift“ dem Nordmann ein zweites Leben einhauchen. Was damals noch niemand ahnte, das gläserne Heck bescherte dem Schneewittchensarg einen bis heute wirkenden märchenhaften Mythos unter den nordischen Meilensteinen. Der Volvo 1800 ES wurde Vorbild vieler Kombi-Coupés und gilt als bedeutendster Urvater moderner Shooting Brakes.

„Jaktvagn“ (Jagdwagen) hieß schon der erste Entwurf, mit dem Volvo den Verkauf des alternden Coupés 1800 S Mitte der 1960er Jahre neu in Fahrt bringen wollte. Notwendig geworden war dies, nachdem die Absatzzahlen in Amerika, dem wichtigsten Exportmarkt, den Zenit überschritten hatten. Regelmäßige optische Modifikationen waren besonders den modebewussten Amerikanern damals wichtig. Als in der Presse erste Bilder eines Fastbacks-Concepts der italienischen Carrozzeria Fissore mit einer bewusst gesuchten optischen Annäherung des Volvo Coupés an den Ford Mustang veröffentlicht wurden, forcierte die Volvo Designabteilung die Entwicklung eigener Coupé-Entwürfe. Klar war, Vorderwagen und Antriebsaggregate des sportlichen Imageträgers sollten weitgehend unverändert bleiben. Dafür sollten Dach und Heck des schnellsten Schweden neu gestaltet werden und aus dem Coupé einen stilistischen Solitär formen, so einzigartig wie ein italienischer Supersportwagen.

Zwei Konzepte kamen für Chefdesigner Jan Wilsgaard in die engere Auswahl: Ein modisch verspieltes, sogenanntes Beachcar und der extravagante Jaktvagn („Jagdwagen“). Der Jaktvagn orientierte sich am ersten Supercar in Shooting-Brake-Design, dem Aston Martin DB5, und machte das Rennen um die Nachfolge des Volvo Coupés. Deutlich beschleunigt wurde die Realisierung des skandinavischen Shooting-Brake, als Ende 1967 der englische Reliant Scimitar als weltweit erster erschwinglicher Shooting Brake die Sensation der Londoner Earls Court Motorshow war und Reliant zum Hoflieferanten des englischen Königshauses ernannt wurde. Schwedischer Hoflieferant war Volvo zwar bereits, aber das Image eines Premiumherstellers musste noch erworben werden. Die notwendige Aufbauarbeit dafür leisten sollten die neue Sechszylinder-Limousine 164 und der Sportkombi 1800 ES mit genug Platz für die große Golfausrüstung. So viel sei vorweggenommen: Kronprinz Carl Gustav, bekannt als Liebhaber schneller Autos, wusste die Anstrengungen seiner Landsleute zu würdigen und posierte kurz nach der Pressevorstellung des Shooting Brake bereitwillig für PR-Fotos neben seinem persönlichen 1800 ES.

Hervorgegangen war das endgültige Design des 1800 ES aus italienischen Prototypen. Zunächst entstand 1967 im Studio Technico von Pietra Frua ein origineller, zu kühner Entwurf. Die Heckpartie brachte dem Kombi-Coupé den Namen „Rakete“ oder – bösartiger – „Tonne“ ein, wäre nach Ansicht von Volvo für den Publikumsgeschmack aber zu polarisierend gewesen. So konnte sich ein Jahr später der ebenfalls von Volvo beauftragte Karossiers Sergio Coggiola mit seiner „Jaktvagn“-Studie gegen Fruas „Rakete“ durchsetzen.

Erkennungszeichen des 2+2-sitzigen 1800 ES, der von Jan Wilsgaard nur in Details modifiziert wurde, war die rahmenlose Heckscheibe, die bis weit unter die Gürtellinie reichte und freie Sicht auf das Gepäck zuließ. Das heute übliche Gepäckrollo gab es nicht einmal gegen Aufpreis. Den Erfolg des 1800 ES konnten solche Kleinigkeiten ebenso wenig einbremsen wie extrem hohe Verkaufspreise, die im Vergleich damals sogar einen Porsche 911 T als Sonderangebot darstellten. Über 26.000 Mark verlangte Volvo zuletzt für den 1800 ES, fast 3.000 Mark mehr als Porsche den 911-Käufern in Rechnung stellte. Dennoch konnten über 8.000 Kombi-Coupés verkauft werden, die meisten nach Amerika. Beerdigt wurde der Schneewittchensarg nach nur zwei Sommern, neue US-Sicherheitsvorschriften forderten 1973 hohe Nachrüstinvestitionen. Vor allem aber stand das vorwiegend militärisch genutzte Geländefahrzeug C303 in den Startlöchern und für die Fertigungsstraße des C303 fand sich offenbar kein anderer Platz als die alte Produktionshalle des 1800 ES. Wie zukunftsweisend der 1800 ES für Volvo war, zeigte zwölf Jahre später der 480 ES. Dieser erste Volvo-Fronttriebler revitalisierte die Idee des Sportkombis – und blieb erheblich näher am Vorbild als der neue V40, bei dem sich Volvo abermals auf die Historie beruft. Märchenpreise erzielt jedoch nur der 1800 ES: Bis zu 35.000 Euro zahlen Fans heute für den Klassiker.

Text: Spot Press Services/Wolfram Nickel
Fotos: Volvo, SPS

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