Buchtipp der Woche (1)

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Robert Pragst: Auf Bewährung. Mein Jahr als Staatsanwalt.
Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv); 14,90 Euro.

ÜBERFALL. Vier maskierte Männer haben am Donnerstag ein kleines Geschäft in Berlin-Friedrichshain überfallen. Sie drangen kurz nach Ladenschluss in die Verkaufsräume ein und bedrohten die beiden Inhaber mit einer Pistole. Nach einemHandgemenge raubten sie das Geld aus der Kasse und flüchteten.

Meldungen wie diese liest man täglich. Um sie als Leser – ganz ehrlich – doch alsbald wieder zu vergessen. Was man nicht kann, wenn man mit dem Fall als Ganzes in der Funktion eines Staatsanwalts befasst ist. Dann offenbart sich, zwangsläufig, die ganze Tragödie hinter einem Geschehen, das in so wenigen Sätzen (und dann noch eher undramatisch, denn es gab ja weder Verletzte noch Tote) in der Zeitung steht.

Es macht das Buch von Robert Pragst so lesenswert, dass er genau diese Schicksale hinter den Akten deutlich werden lässt, in klaren, einfachen Worten, ohne jede Rührseligkeit und ohne Anreicherung mit gefühlsträchtigen Wörtern.

Werner L. ließ die Rollläden herunter und befestigte sie unten in der Verankerung. Erika L. hatte die Kasse bereits abgeschlossen und zog sich ihren Mantel an. Sie hatte wie ihr Mann in dem nahe gelegenen Werk für Fernsehelektronik gearbeitet und wie er kurz nach der Wiedervereinigungihre Arbeit verloren. Die dort hergestellten Fernsehgeräte waren nicht wettbewerbsfähig und die Produktionsstätte veraltet, sodass sich auch kein Investor fand. Sie war stolz darauf, sich mit ihrem Mann diese neue, bescheidene Existenz aufgebaut zu haben. Die Anfangszeit war hart gewesen,sie hatten sich sehr einschränken müssen. Mittlerweile lief der Laden jedoch ganz ordentlich. An Urlaub war natürlich nicht zu denken und Werner hatte ihr einmal ausgerechnet, dass sie genauso viel Geld zur Verfügung hätten, wenn siezu Hause bleiben und Arbeitslosengeld beziehen würden. Doch das war nichts für Erika, und Werner wollte eigentlich auch nicht zu Hause herumsitzen und warten. Worauf auch? Beim Arbeitsamt hatte man ihnen gesagt, dass es ihren erlernten Beruf so gar nicht mehr geben würde. Außerdem seien sie aufgrund ihres Alters nur schwer vermittelbar. Schließlich kamen sie auf die Idee mit dem Laden. Erika verliebte sich schnell in den Beruf hinter der Ladentheke. Dankihrer aufgeschlossenen Art bekam sie rasch Kontakt zu den Leuten in ihrem Kiez. Für einen kurzen Plausch war immer Zeit. Dafür war ein Tante-Emma-Laden ja schließlich da. Werner kümmerte sich nebenbei um den Warenankauf und die Buchführung.
Es war nicht so einfach, nach der Wende zurechtzukommen. Doch sie hatten einen Platz gefunden und verdienten ihr eigenes Geld. Das machte sie glücklich und auch ein wenig stolz.

Aber halt – was hat denn ein Staatsanwalt mit solchen Fällen zu tun? Der Staatsanwalt – ist das nicht der, der eloquent und nachdrücklich vor Gericht für die Einhaltung von Recht und Gesetz plädiert? Und irgendeinem Winkeladvokaten den Wind aus den Segeln nimmt? Oder als altersweiser Herr jungen, ambitionierten Ermittlern zur Seite steht?

In Fernsehserien ist es so, doch. Und das muss nichts Schlechtes heißen, sofern man als Zuschauer die Fiktion mit Unterhaltungswert nicht mit der Realität verwechselt. Denn die kann ja doch ganz anders aussehen, wie Robert Pragst in seinem Buch darlegt. Dabei hatte er bei Eintritt in die Staatsanwaltschaft überhaupt keine größenwahnsinnigen Phantasien in eigener Sache:

Stumpft man im Prozessalltag irgendwann selbst gegenüber schwerwiegenden Vergehen ab? Verfolgen einen die Verbrechen auch zu Hause oder lernt man abzuschalten? Als ich im Rahmen meiner Ausbildung meinen einjährigenDienst bei der Staatsanwaltschaft Berlin antrat, machte ich mir über all diese Fragen keine Gedanken. Vielmehr befürchtete ich, der Arbeit in der mit Abstand größten Staatsanwaltschaft Deutschlands vielleicht überhaupt nicht gewachsen zu sein. Ich hatte schlimme Gerüchte aus dem riesigen Gerichtskomplex in Berlin-Moabit gehört. Einer Strafverfolgungsfabrik mit allein dreihundertdreißig Staatsanwälten, wobei das Gebäude selbst, als einer der bedeutendstenBauten der wilhelminischen Zeit, eine solche Bezeichnung eigentlich nicht verdient hat.

Manche Gerüchte mögen der Wahrheit entsprochen haben. Man reibt sich als Laie schon mal die Augen beim Lesen: Da hat einer ein Jurastudium absolviert, mit ordentlichen Ergebnissen, und dann muss er in der Praxis die Formalien seines Vorgehens erst mal wieder von der Pike auf lernen. Und sehr viel Geduld aufbringen, bis er überhaupt einmal Zeichnungsrecht hat, das heißt, ein Mindestmaß an Entscheidungsgewalt. Manche Kollegen und Vorgesetzte sind angenehm und kompetent, können mit Berufserfahrung und Augenmaß den Nachwuchsjuristen an den Alltag gewöhnen. Andere wiederum schleppen ein beachtliches Maß an persönlichen Macken mit sich herum, welche die Ausbildung sozialer Kompetenz erheblich erschweren. Und während man eigentlich noch gar nichts zu sagen – geschweige denn zu entscheiden – hat, nennt man sich schon wohlklingend Staatsanwalt.

Wie gesagt, Robert Pragst verzichtet auf jedwede Theatralik, die das Bild seiner vermeintlich prestigeträchtigen Arbeit in Film und Fernsehen so geprägt hat. Der Verzicht macht seine Schilderung allerdings nur noch lesenswerter, zumal sich hinter den Aktenbergen mehr als genug spannende Fälle verbergen, deren Beurteilung ein gehöriges Maß an Empathie, Paragraphenkenntnis und Augenmaß verlangt.

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