CD-Tipp der Woche

Beitragsbild
Foto 1

Naim Amor: Sanguine (Le Pop/Groove Attack)

Bei Naïm Amor ist alles anders. Für den Rest der Welt ist Paris die Stadt der Liebe, für Naïm Amor ist es die Stadt, die er der Liebe wegen verlassen hat. Das war vor 14 Jahren. Genau zu der Zeit also, als in Frankreich das Nouvelle Chanson gerade noch im Nanteser Untergrund schlummerte. Schuld an Naïm Amors Flucht war eine Exil-Französin, die in Tucson (Arizona) lebt, und ihm den Kopf verdrehte. Für Amor – der wirklich so heißt – ein idealer Ort, nicht nur wegen seiner Angebeteten, sondern auch wegen seiner Liebe zu amerikanischer Musik. Und es lief wie am Schnürchen für den Auswanderer. Er lernte Howe Gelb kennen und traf früh auf die Calexico-Gründer Joey Burns und John Convertino, die bis heute seine Wegbegleiter sind. Schnell wurde Amor Teil der lebendigen Musikszene von Tucson, spielte Rockabilly mit Al Foul und stieg nebenbei noch in ein Jazz-Ensemble ein. Der perfekt an einem Pariser Musikkonservatorium ausgebildete Musiker hatte keine Mühe, Aufträge zu bekommen und konnte schnell von seiner zweiten großen Liebe, der Musik, leben.

Den Sprung vom Gast- und Studiomusiker zum Bühnenkünstler, der sich einen eigenen Namen macht gelang zunächst als Teil des mit Thomas Belhom gegründeten Amor Belhom Duo. Die Texte zu deren Stücken lieferte Marianne Dissard, die Amor inzwischen geheiratet hatte. Mit Unterstützung von Convertino und Burns spielte das Amor Belhom Duo zwei Studio-Alben ein und ging mit ihrem vom Jazz inspirierten experimentellen Country-Rock in den USA und Europa auf Tour. Nach einer Kollaboration mit Calexico unter dem Projektnamen ABBC widmeten sich beide wieder ausgiebigen Tourneen. Am Ende einer Frankreich-Tour mit dem französischen Chansonnier Miossec ging die Band auseinander. Seither arbeitet Naïm Amor an eigenem Material. Zunächst veröffentlichte er zwei Alben mit Soundtracks zu realen und imaginären Filmen und legt nun mit Sanguine sein erstes Songwriteralbum unter eigenem Namen vor. Produziert hat wiederum Joey Burns von Calexico.

Ich kenne Joey nun schon lange. Er hatte viele gute Ideen zu meinen Songs und hat mir eine ganz neue Dimension eröffnet, wie ich meine Stücke arrangieren könnte. Sanguine ist viel akustischer als jedes meiner vorherigen Alben, das hat auch mit dem Einfluss von Joey Burns zu tun. Ich spiele sonst hauptsächlich E-Gitarren.

Eins der Schlüsselstücke auf Sanguine (Blutorange), das nun in Deutschland und Frankreich erscheint, ist ein Song, der sich um eine Scheidung und ein anschließendes Trinkgelage dreht. Son Grand Sourire (Ihr großes Lächeln) ist ein wundervoller Walzer, der textlich autobiographische Züge trägt und musikalisch wiedergibt, was Naïm Amor heute ausmacht: Die Schule der alten Chanson-Generation mit Künstlern wie Henri Salvador, Boris Vian und Serge Gainsbourg (La Javanaise-Phase) scheint deutlich durch, das aber in der umwerfenden Kombination mit dem Sound einer Westerngitarre. Die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Einflüsse ist prägend für dieses erstaunliche Album: Folk, Jazz, Chanson und Country hinterlassen sanfte Spuren in der Musik, ohne sie stilistisch zu dominieren. Stattdessen steht das gekonnte Songwriting Naïm Amors im Vordergrund, sein subtiles Gespür für fein gesponnene Melodien. Die schlanke Produktion von Joey Burns unterstützt die impressionistische Stimmung des Albums, die punktgenauen Arrangements und das facettenreiche Gitarrenspiel Amors halten Sanguine jederzeit in einer mühelosen Balance.

Naïm Amor entwirft Skizzen. Songs, die einen flüchtigen Moment, ein Gefühl, eine Stimmung einfangen. In der Atmosphäre, die dabei entsteht, verbindet sich die Weite der Wüste Arizonas mit einem Pariser Flair vergangener Tage. Das beste Beispiel ist das Titelstück: Sanguine, die Vertonung eines Gedichts von Jacques Prévert (Dem Texter zahlreicher berühmter Chansons, darunter Les feuilles mortes) das in den Fünfzigern bereits von Yves Montand interpretiert wurde. Amor verlegt Saint-Germain kurzerhand in die Wüste und europäischer Jazz schmückt sich mit einem Lap Steel Solo. Die sinnlich-warme Stimmung des Stücks liegt wie ein feiner Film auch über den restlichen Songs des Albums. Wie im Opener Être là, der mit seiner Rhythmik die Einflüsse von Jazz und Rockabilly wie ein fernes Echo erahnen lässt. Aigre Martini ist einerseits ein fast klassisches Chanson, andererseits eine Perle von Folksong – die Synthese macht das Stück einzigartig. Les bruits, Precious second oder La Sieste sind Folk Pop im besten Sinne: elegant, transparent und von melancholischer Leichtigkeit. Quelle heure est-il? – ein sehr cinematisches Stück, das durch die backing vocals von Marie Frank noch an Atmosphäre gewinnt – erinnert an Amors Soundtrackarbeiten während das großartige Lychee Girl den Einfluss von Beatles' Rubber Soul offenbart. Das Album schließt mit Tucson, AZ, einer Miniatur über die Sommerhitze Arizonas.

Amor: Das Stück beschreibt die Atmosphäre eines heißen Sommerabends. Jeder, der den Sommer in Tucson kennt wird verstehen, dass man sein Tempo drosseln und sich auf den kleinstmöglichen Aufwand beschränken muss. Sanguine wurde im Sommer aufgenommen und ist insofern ein sehr relaxtes Album.

Nach Marianne Dissard (L'entredeux, 2008) erscheint mit Naïm Amor bereits der zweite Künstler aus Tucson, Arizona bei Le Pop Musik. Die Stadt ist geprägt von einer äußerst vitalen Musikszene, unzähligen Auftrittsmöglichkeiten und nicht zuletzt dem Wirken der Band Calexico und ihres Umfelds. Dass Amor, wie Dissard, aus Frankreich stammt und vorwiegend französisch singt, fügt der Szene einen weiteren interessanten Aspekt hinzu.

Ich bin Franzose, aber ich spiele diese Tatsache nicht aus. Gleichzeitig versuche ich nicht, amerikanischer zu sein, als ich bin – Genau diese Haltung zeichnet Amor aus und macht seine Musik so außergewöhnlich.

Scroll to Top