Dieter Schütt: Ich seh doch, was hier los ist. Regine Hildebrandt – Biographie. Gustav Kiepenheuer Verlag; 19,90 Euro
Plötzlich war sie Politikerin: Die Wende katapultierte die Diabetes-Expertin Regine Hildebrandt 1990 in die Öffentlichkeit. Die langjährige Klinikmitarbeiterin kannte die Probleme und Nöte der Gesundheitsversorgung im DDR-System, sah aber im Gesellschaftssystem durchaus auch Vorteile. Sie, die übrigens als tief gläubige und kirchlich aktive Persönlichkeit alles andere als ein Liebling der DDR-Repräsentanten war! Berufstätigkeit der Frau, ohne dass die Versorgung von Kindern darunter leiden müsse, Weiterbildung im Beruf, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die vielen Ursachen von Verelendung und Verwahrlosung und ihre Beseitigung…das alles waren Regine Hildebrandts Themen als Sozialministerin von Brandenburg.
Dass ihr, kaum dass sie die polititsche Bühne betreten hatte, zahlreiche Sympathien zuflogen – das lag an ihrer Fähigkeit, auf Menschen zuzugehen, sich ihrer Angelegenheiten anzunehmen, ohne nur das, was im Argen lag, mit netten Worten schön zu reden. Regine Hildebrandt sprach Klartext – und versuchte, in ihrem Amt möglich zu machen, was möglich war.
Wer das tut, findet nicht ausschließlich Sympathien. Kritiker monierten Hildebrandts Auftreten, ihre schnelle und laute Sprechweise und vor allem ihr sehr begrenztes Interesse zu Modefragen. Was auch ein Kompliment war, denn anderes war auch kaum zu kritisieren. Insbesondere männliche Politikerkollegen liebten Regine Hildebrandt als Zielscheibe, und was da geäußert wurde, war mitunter mehr als beleidigend. Dass aber Regine Hildebrandt oft genug doch auch scheitern musste mit dem, was sie sich vornahm, dafür sorgten schon die zahlreichen Sachzwänge und notwendigen Kompromisse, die es einzugehen galt.
Hans-Dieter Schütt zeichnet ein vielschichtiges Porträt einer Frau, die auch vier Jahre nach ihrem Tod als Politikerin unvergessen ist, weil sie so oft überhaupt nicht wie eine distanzierte Repräsentantin wirkte. Ihr Zuspätkommen bei festlichen Anlässen war fast schon legendär – weil auf dem Weg noch jemand ihr eine ganz persönliche Lebens- und Leidensgeschichte erzählte, wofür sie sich die Zeit, die ihr möglich war, auch nahm. Schütt schreibt jedoch auch über die Schwierigkeiten, viele Ziele parallel zu verfolgen, was gelegentliches Scheitern absolut unvermeidbar machte.
Im November 2001 ist Regine Hildebrandt, gerade 60 Jahre alt geworden, an den Folgen eines Krebsleidens verstorben. Eine der letzten großen Lebensleistung dieser Frau war es, das Thema Sterben aus der Tabuzone zu holen. Sie tat es, wie sie all ihre Themen in die Öffentlichkeit brachte – vernehmlich, in klaren Worten, nachhaltig. Und beschämte noch einmal Kritiker – denn was hätte sie wohl erreicht mit einem leisen und angepaßten Auftreten? Über den Umgang mit Krankheit und Tod sprach sie öffentlich auch noch, als sie nicht mehr Ministerin war. Das musste sie auch nicht mehr sein, denn Regine Hildebrandt hörte man einfach zu, weil sie Regine Hildebrandt war.