Mit Vollgas in die Vergangenheit: Nein, ein Retro-Auto ist der neue Mercedes SLS nun wirklich nicht. Doch gibt es auch kein anderes Fahrzeugkonzept, das so tief in der Mercedes-Historie verwurzelt ist, wie der Flügeltürer. Denn seit dem legendären 300 SL aus den Fünfzigern, steht der automobile Flügelschlag für schwäbische PS-Eleganz schlechthin. Dabei sollte der Zweisitzer anfangs gar nicht schön, sondern zu allererst einmal schnell sein. Schließlich gab der SL sein Debüt nicht auf den Boulevards, sondern in der Boxengasse – als waschechter Rennwagen.
Zu seinen größten Triumphen zählte der Doppelsieg bei der Carrera Panamericana in Mexico: 18 Stunden, 51 Minuten und 19 Sekunden lang ließen dort Karl Kling und Hans Klenk in der Nummer 4 die Konkurrenz nicht viel mehr sehen als ihre gewaltige Staubschleppe. Damit kämpften vor allem Herrmann Lang und Hans Grupp, die in Wagen 21 exakt 35 Minuten später als zweite ins Ziel kamen.
Die damals 3.113 Kilometer lange, materialzehrende Straßenrennroute forderte einen logistischen Marathon von Service- und Reifenwechselpunkten. In acht bis zu tausend Kilometer langen Etappen führte die “Carrera” in nur vier Tagen von Tuxtla Gutiérrez im tropischen Süden entlang den Oberkanten tiefer Schluchten über hohe Pässe nach Ciudad Juarez im Norden Mexicos. Fahrer und Rennwagen trotzten brennender Sonne, Temperaturschwankungen von 5° bis 40° Celsius im Schatten, Höhen vom Meeresspiegel bis 3.300 Meter, dem extrem “lebensfeindlichen” Streckenprofil, ungezählten Pannen und erreichten dabei Geschwindigkeiten, die selbst 50 Jahre später als “Fabelwerte” empfunden werden.
Gegen das, was die Rennfahrer damals durchmachen mussten, ist ein Formel-1-Rennen deshalb heute eine bessere Spazierfahrt: Keine Servolenkung, keine Bremskraftverstärker, keine Elektronik und keine Klimaanlage. Sondern zwei Schalensitze eng wie ein Schraubstock, ein Fußraum so klein wie das Ende eines Trichters und ein spindeldürres Holzlenkrad – mehr hatte der W 194 genannte Siegerwagen seinen beiden Piloten nicht zu bieten.
Im aktuellen SLS dagegen ist die Langstreckenfahrt durch Mittelamerika nicht viel mehr als eine lustige Landpartie: Wo Kling & Co mit Oberarmen wie Eisenbieger nur mühsam den Kurs halten konnten, lenkt man den neuen Flügeltürer mit dem kleinen Finger über die historische Strecke. Statt mit der Pistolenschaltung auf dem Mitteltunnel, lassen sich die Gänge in wenigen Sekundenbruchteilen automatisch mit den Schaltwippen am Lenkrad wechseln, und wo die Rennfahrer in den flotten Fünfzigern mit offenen Türen fahren mussten, um wenigstens ein bisschen Frischluft zu bekommen, fächelt einem die Klimaanlage heute stets genügend kühle Luft um die Nase.
Natürlich springt auch der SLS wie ein bockiger Esel über die hinterhältigen Bodenwellen auf dem Highway, den Mexico vor 60 Jahren mit der Organisation des Rennens weltweit bekannt machen wollte. Die dünne Luft auf Passhöhen von über 3.000 Metern macht auch dem neuen Flügeltürer zu schaffen. Die schnellen Serpentinen an hunderte Meter tiefen Abgründen sind auch mit ESP eine automobile Mutprobe. Und wenn der Tiefflieger in den Ortschaften über die beinahe kniehohen Tempo-Barrieren kriecht, wünscht man sich sehnlich in einen Geländewagen. Doch all das ist kein Vergleich mit den Strapazen, die Kling und Klenk damals auf sich genommen haben. „Das war körperliche Schwerstarbeit“, sagt Rennlegende Hans Herrmann, der die Carrera 1954 gefahren ist. Nicht einmal der berühmte Einschlag eines Geiers in der Frontscheibe konnte die Rennfahrer auf ihrer Triumph-Tour damals stoppen. Während sich der kurzzeitig ohnmächtige Beifahrer Klenk vom Arzt den Segen geben ließ, schraubten die Mechanik kurzerhand ein paar Stahlstreben vor die ersetzte Scheibe – und weiter gings.
Obwohl unter der lustvoll ausgebreiteten Motorhaube des SLS ein 6,2 Liter großer V8 mit 571 PS und 650 Nm bollert, der den Zweisitzer in 3,8 Sekunden auf Tempo 100 katapultiert und dem erst bei 317 km/h die Luft ausgeht, sind bei dieser Tour die Rekordzeiten von einst nicht erreichbar. Selbst wenn die Polizei den Weg freisperrt und die Radarpistolen dankenswerterweise in die andere Richtung hält, klettert das Durchschnittstempo nur mühsam über 100, mit Glück und Geschick vielleicht 120 km/h. Kling und Klenk dagegen haben mit zwei Zylindern, drei Litern Hubraum und 400 PS weniger am Ende einen Schnitt von 165 km/h erreicht – ein Fabelwert, der wirkt wie aus einer anderen Welt. Das kann selbst John Fitch heute kaum mehr glauben, der damals beinahe als Dritter hinter Kling und Lang auf einem weiteren SL ins Ziel gefahren wäre und die Tour am liebsten noch mal mit dem neuen Auto machen würde. „Heute wäre ich bestimmt noch schneller“, freut sich der mittlerweile weit über 90 Jahre alte PS-Pensionär auf sein neuerliches Rendezvous mit dem Flügeltürer in Oaxaca, wo die Carrera auch 1952 schon Station gemacht hat.
So nah sich der alte und der neue Flügeltürer hier in der Altstadt der Provinzmetropole auch sind, gibt es doch einen entscheidenden Unterschied: den 300 SL durften die ersten Jahre nur Rennfahrer steuern. Den SLS dagegen gibt es ab diesem Wochenende für Jedermann – zumindest, wenn man 177.000 Euro hat und einen Händler findet, der nicht schon ausverkauft ist.
Text und Fotos: Spot Press Services/bb