Die Tour de France 2008: Jürgen C. Brauns Tagebuch (7)

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Eine Tour de France ist im Allgemeinen etwa 3.500 Kilometer lang. Mal sind es ein paar mehr, mal ein paar weniger. Die 17 aufregendsten davon sind mit Sicherheit der Schlussanstieg der schwersten Alpenetappe von Bourg d'Oisans hinauf nach Alpe d'Huez, dem Tour-Tempel schlechthin. Alle zwei Jahre geht es hinauf in den Wintersportort. 21 Kehren, auf denen die Namen derjenigen, die in vielen Jahrzehnten an diesem Tour-Giganten gesiegt haben, mit Kreide fest gehalten sind. Den Weg nach L'Alpe kann man eigentlich nicht beschreiben, man muss es einfach einmal erlebt haben, so wie ich schon einige Male.

17 Kilometer Asphalt, der sich in den Berg hinein frisst, der sich wie eine giftige Schlange Kurve um Kurve hinauf windet und züngelt. Meter für Meter eine einzige Herausforderung, die die Beine der Fahrer unmenschlich brennen lässt, ihnen die Körner einzeln aus dem Körper zieht. Unsereins fährt etwa zwei bis drei Stunden vor der Ankunft der Tour hinauf, um im großen Pressezentrum, dem Palais de Congrès, noch einen Platz zu ergattern. Am Mittwoch habe ich mal wieder die Zeit gestoppt, bis wir oben waren. Genau 64 Minuten waren es für 17 Kilometer.

Die lebendige Menschenmauer beginnt schon direkt am Ortsausgang von Bourg d'Oisans, einem wunderschönen Flecken mit einer riesigen Blumenpracht, pittoresken Häusern, malerischen kleinen Plätzen und hölzernen Brücken im romantischen Tal der Romanche. Doch die Idylle hat bald ein Ende, wenn le tour kommt. Die Menschen reisen schon Tage vorher an, oder sollten man besser sagen, sie fallen ein in das Departement Alpes-Maritimes. Mit Reisemobilen, Wohnwägen, großen und kleinen Zelten, die irgendwie am Straßenrand hinauf nach Alpe d'huez , an der Felswand, geparkt werden. Mit Vorbauten an ihren rollenden Häusern, mit Stühlen, Campingtischen, Fahnen und riesigen Spruchbändern. Und vor allem: Mit viel Trinkbarem, worunter Buttermilch und andere bleifreie Getränke mit Sicherheit am wenigsten vertreten sind.

Viele der meist jugendlichen Besucher stehen bei circa 30 Grad schon seit dem frühen Morgen in der prallen Sonne, haben das eine oder andere Bierchen schon gezischt. Aber Alkohol und der sengende Planet am blauen Himmel in trauter Zusammenarbeit potenzieren nicht nur die Begeisterung der geschätzten 150.000 Menschen auf diesen 17 Kilometern, sondern auch deren Angriffslust und Aggression. Oberstes Gebot für alle Autofahrer auf dem Weg nach oben: Fenster zu!!! Alles andere sorgt für ständige Attacken von außen mit wahlweise frischem oder abgestandenem Wasser, schalem Bier oder – so geht die Mär – mitunter auch leicht übel riechendem Flüssigem aus Pappbechern, das die intakte Funktionalität der menschlichen Nieren nachhaltig unter Beweis stellt!

Im ersten Gang – mehr geht nicht – wälzen wir uns durch die schreiende, lärmende, vor unser Fahrzeug springende, Fahnen schwenkende Meute. Der in der Regel nackte Oberkörper zumindest der männlichen Ausgeflippten weist alle farblichen Schattierungen von Kalkeimer-Weiß bis Waldbrand-Rot auf. Lebende Gerippe, die dem nächst gelegenen Miss-Twiggy-Fanklub entsprungen scheinen, vergnügen sich vor, zwischen, auf und hinter Zelten am Straßenrand mit Zeitgenossen, denen man für den nächsten weihnachtlichen Wunschzettel ein Jahres-Abo nachhaltig wirkender Weight-Watcher-Produkte empfehlen möchte.

Durch die geschlossenen Scheiben unseres Fahrzeugs dringen diabolische Dezibel-Gipfel aus den Lautsprechern der Werbekarawane herein. Allmählich bekomme ich Blasen an die rechte Hand, die den Schaltknüppel bedient und das Kupplungs-Bein zittert schon ein wenig. In solchen Augenblicken denke ich immer: Na ja, bist halt keine Fuffzich mehr! So geht es eine Stunde lang. Anfahren, bremsen, halten, Kupplung langsam kommen lassen. Warten, wieder für fünf Meter, dann mal 20 Meter am Stück.

Bis wir endlich oben sind, raus gewunken werden, irgendwo einen Parkplatz gefunden haben. Endlich aussteigen. Meine kurze, arg verkrumpelte, Hose müffelt jetzt ein wenig, leichte Schweißränder verzieren die Nähte meines nicht mehr ganz neuen Beinkleides. Na ja, für Alpe d'Huez reicht es noch. Und dann das Schönste: Einer der blau-gewandeten Gendarmen kommt mit mitleidiger Miene auf mich und meinen Ford Mondeo zu. Er deutet auf das Auto, schnüffelt etwas, sieht mich an und rümpft die Nase: Monsieur, vos freines. Danke, Herr Gendarm! Dass die Bremsen meines Fahrzeugs stinken, rieche ich selbst. Gott sei Dank noch etwas mehr als ich selbst nach diesem Höllenritt hinauf nach Alpe d'Huez.

Aber, unter uns gesagt, und verraten Sie es bitte nicht weiter: Ich freue mich schon auf das nächste Mal.

Text und Bilder: Jürgen C. Braun

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