„Wie schön ist es doch, mit einem schnellen Wagen der Avantgarde zu fahren, in dem nichts klappert und alles funktioniert!“, freuten sich vor 60 Jahren Fachjournalisten über den neu vorgestellten Lancia Flavia.

Tatsächlich verkörperte die elegante Limousine der anspruchsvollen Mittelklasse alles, was einen neuen Lancia damals ausmachte – und was letztlich zum Untergang der noblen italienischen Traditionsmarke führen sollte: Qualität und Technik vom Feinsten ohne Rücksicht auf Kosten. Hinzu kam exklusive Sportlichkeit in Form gleich dreier Gran Turismo aus den Ateliers von Stardesignern. Pininfarina zeichnete für den Flavia ein Coupé, das die Linien des Ferrari 250 GT adaptierte, Zagato kreierte die eigenwillig konturierte Motorsportversion Flavia Sport und ein verführerisches Flavia Cabriolet kam von Vignale. Vor allem aber sorgte die rund 4,60 Meter lange Flavia Berlina für Furore, die mit neu entwickeltem Boxermotor und als erstes italienisches Großserienmodell mit Frontantrieb sowie Benzineinspritzung einen Futurismus bot, der Connaisseurs begeisterte. Zumindest in Italien, denn auf Exportmärkten wie Deutschland kostete der Vierzylinder-Lancia mehr als ein repräsentativer Opel Kapitän und fast so viel wie eine Mercedes S-Klasse. Italienische Maßanzüge waren eben schon immer exklusiv und der Flavia demonstrierte dies auch durch bewussten Verzicht auf die sonst bei Businesslinern angesagten verchromten Heckflossen.

Dennoch leistete sich der Flavia als Limousine anfangs kleine optische Fauxpas: Der vordere Überhang der Karosserie war zu groß und die vier Rundscheinwerfer nahmen zwar die strahlenden Insignien späterer Sportler wie des BMW 2002 vorweg, aber Lancia arrangierte sie zunächst in Form kurioser Glupschaugen, die erst bei einem Facelift zu gefälligen Doppelscheinwerfern mutierten. Dagegen gab sich der 1961 folgende Pininfarina-Entwurf für das Coupé nach Meinung der Fachwelt formvollendet wie kein anderer Gran Turismo der gehobenen Mittelklasse. Ein Sportler in Ferrari-Konturen, der seinen Wettbewerbern auch technisch voraus war, dies ebenso wie die Limousine durch Rallyetriumphe unter Beweis stellte und mit kräftigem 2,0-Liter-Motor 1969 sogar die Fusion mit Fiat überlebte. Das gelang dem 1962 von Giovanni Michelotti in schlichte Eleganz gebrachten und bei Vignale gefertigten Flavia Cabriolet leider ebenso wenig wie dem gleichzeitig eingeführten exzentrischen Zagato-Entwurf Flavia Sport, von dem in fünf Jahren gerade 727 Einheiten verkauft wurden. Vom Cabriolet waren es auch nur 1.601 Fahrzeuge, im Vergleich dazu wirkte die Flavia Berlina mit fast 80.000 ausgelieferten Limousinen wie ein Massenmodell. Trotzdem umgab alle Flavia ein Hauch Tragik.

Waren sie doch die letzten aus dem Vollen gefrästen großen Lancia, mit denen Chefkonstrukteur Antonio Fessia und der neue Lancia-Mehrheitseigner Carlo Pesenti vergeblich auf die Rückkehr goldener Zeiten für den vormals zweitgrößten italienischen Hersteller hofften. Unzählige genial kreative und entsprechend kostspielige Details machten die Flavia Modellfamilie einzigartig, leisten wollten sich diese automobilen Diamanten aber nur Lancisti und leider viel zu wenige Kunden anderer Marken. Die Wettbewerber von Peugeot (404), Volvo (Amazon), BMW (Neue Klasse) und Mercedes (190) kosteten deutlich weniger, gar nicht zu reden von Preisbrechern mit Fiat- oder Ford-Signet.

Vier Scheibenbremsen mit zwei Bremskreisen und Bremskraftverstärker bot jedoch keiner der Lancia-Konkurrenten. Flavias geteilte Lenksäule und Fixpunkte für Sicherheitsgurte waren progressiv, jener unvergleichlich satte Ton der schließenden Türen fand sich nicht einmal bei Rolls-Royce, gar nicht zu reden von den roten Warnleuchten in den extra weit öffnenden Portalen und Vorhängen aus feinstem italienischem Tuch für die Fondpassagiere. Dazu die bis ins Dach gezogenen hinteren seitlichen Panoramascheiben beim Flavia Sport inklusive eines Wechselspiels aus konkav und konvex gewölbten Fensterflächen. Oder der via Hebel begrenzbare Einschlag der Vorderräder beim Einsatz von Schneeketten, kurz der Einfallsreichtum der Flavia-Konstrukteure kannte keine Grenzen. Schließlich galt es, das beste Auto der Mittelklasse zu bauen und so die Krisen der Vergangenheit vergessen zu lassen.

Zuletzt hatte die technikverliebte Marke Lancia 1955 vor dem finanziellen Kollaps gestanden und die Familie Lancia war gezwungen gewesen, ihre Firmenanteile an den italienischen Bauunternehmer Carlo Pesenti zu verkaufen. Dieser hatte Antonio Fessia angeworben und mit der Entwicklung zweier Volumenmodelle beauftragt, die unterhalb des staatstragenden Flaminia positioniert werden sollten. Es war die Geburtsstunde für die nach antiken römischen Heerstraßen benannten Modelle Flavia und Fulvia, für die Pesenti sogar ein neues Werk in Chivasso bei Turin errichten ließ. Dies übrigens erst nach Gesprächen mit Fiat-Boss Agnelli, denn Pesenti wollte mit dem Flavia keinesfalls in Konkurrenz zu neuen Fiat-Flaggschiffen treten. Entsprechend enttäuscht zeigte sich Pesenti über den Start des Fiat 1800 kurz vor dem Debüt des Flavia. Immerhin setzte Carlo Pesenti bei Lancia endlich eine Gleichteilestrategie durch, und zwar zwischen dem 1960 vorgestellten Flavia und dem drei Jahre später folgenden Fulvia. Wichtige Ausnahme: Der Boxermotor. Die Kombination Boxermotor und Frontantrieb hatte Konstrukteur Fessia von seinem früheren, finanziell gescheiterten Arbeitgeber Cemsa-Caproni mitgebracht und der Flavia sollte damit reüssieren.

Was dem gewichtigen Flavia anfangs schwer fiel, denn der 1,5-Liter-Vierzylinder-Benziner entwickelte lediglich 57 kW/78 PS und das nur bei hohen Drehzahlen. So konnte der Wettbewerb nicht auf Distanz gehalten werden. Auch Flavia Coupé, Cabrio und Sport erfüllten die in sie gesetzten Erwartungen erst mit nachgelegten 1,8-Liter-Motoren, die maximal 77 kW/105 PS aufboten. Als schließlich 1969 ein 2,0-Liter-Spitzenaggregat alle Leistungsdiskussionen obsolet machte, war es um die Unabhängigkeit von Lancia bereits geschehen. Obwohl Lancia noch 1967 ein Allzeithoch mit 43.000 ausgelieferten Autos feierte, folgten zwei Jahre später das finanzielle Aus und die Übernahme durch Fiat. Die Kunst des Geldverdienens wollte dem ingenieurgetriebenen Autobauer Lancia auch unter Carlo Pesenti nicht gelingen, die Werke waren trotz Flavia und Fulvia nur zur Hälfte ausgelastet und Alfa Romeo verkaufte inzwischen fast drei Mal so viele Autos. Die Karriere des Flavia fand jedoch unter Fiat eine vorläufige Fortsetzung, facegeliftet nannten sich die stilvolle Berlina und das sportliche Coupé nun schlicht Lancia 2000. Erst im Jahr 1974 war endgültig Schluss für Fessias berühmteste Kreation.

Fotos: Lancia (FCA)

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