Gerade erst waren die Schweden mit Modellen wie Volvo 140/240 und Saab 99 eine weltweit respektierte Macht im Automobilbau geworden, da drohte bereits das Aus: „Volvo und Saab werden untergehen“, erklärte 1979 ausgerechnet die schwedische Regierungsbehörde „Industriverk“, die für kleine Hersteller keine Zukunft sah. Natürlich löste diese Nachricht einen nationalen Skandal aus. Und doch beinhaltete sie unbequeme Wahrheiten. Denn an Geld für neue Modellentwicklungen mangelte es beiden Autobauern, dabei war eine Auffrischung für die nordischen Volksautos Volvo 240 und Saab 99 schon überfällig.
Trotz legendärer Robustheit und preisgekrönter Sicherheitsinnovationen fehlte es dem Duo an Faszination. Tatsächlich galten die Marken aus Göteborg und Trollhättan vielen Autokäufern inzwischen als ähnlich langweilig wie trockenes Knäckebrot, was sich in abstürzenden Verkaufszahlen spiegelte. Aber was tun bei klammen Kassen? Die Trolle packten den Turbo-Hammer aus. Porsche 911 und BMW 2002 Turbo hatten es vorgemacht, waren Top-Asse in jedem Autoquartett und als spoilerbewehrte Vmax-Boliden beliebtes Streitthema in der politischen Diskussion. Für richtigen weltweiten Turbo-Wirbel sorgten aber erst Saab und Volvo, denn sie machten die neue Technik großserienfähig. Schon der 1977 vorgestellte Saab 99 Turbo verfügte über ein brachiales Drehmoment, das sich mit V8-Saugern messen konnte. Aber so richtig wild wurden die Wikinger vor genau 40 Jahren – mit amtlichem Segen. Volvo ließ seine Turbo-Kombis bei Polizeibehörden testen, ehe diese in Kundenhand Ferrari verblasen durften.
Mit Slogans wie „Sicherheit aus Schwedenstahl“ oder „Sicher, siegreich“ hatten die Volvo- und Saab-Flaggschiffe ihr Image als unzerstörbare Schweden-Panzer gefestigt, jetzt mussten freche Marketing-Botschaften begehrenswerte Turbo-Dynamik vermitteln. Vom „neuen Superschweden Saab Turbo“ war die Rede, später vom „Volvo Thunder Wagon“, auch von einer „familientauglichen Volvo-Rakete“ oder einem „Volvo 240 Turbo, der dem Saab 900 Turbo die Türen wegbläst“. Kaum zu glauben, aber die sonst so kühlen Schweden waren derartig heftig vom Turbo-Virus infiziert, dass sie jegliche Zurückhaltung vergaßen. Dabei war Saab in Vorlage gegangen, hatte die Erfahrungen mit Turboladern aus Saab-Scania-Lastwagen genutzt, dem Turbo das Sprit-Saufen abgewöhnt, ihm stattdessen zuverlässige Arbeitsweise auch bei hohen sechsstelligen Kilometerständen anerzogen und schließlich das Turbologo als Kultemblem etabliert. Deshalb debütierte das Saab-Topmodell auf der IAA 1977 ohne üblichen Typencode 99. Stattdessen indizierten ein auffälliges „Turb-O“ Signet sowie Aluräder in Turbinenoptik Tempo und Temperament.
Schon bei 2.100 U/min setzte der Schub des 107 kW/145 PS entwickelnden Kraftwerks ein, das den Dreitürer in knapp neun Sekunden auf Tempo 100 katapultierte und weiter auf über 190 km/h. Zum Vergleich: Der erste Saab 99 leistete nur 59 kW/80 PS, die ihn gerade einmal 150 km/h schnell machten. Der Saab Turbo konnte sich dagegen mit Sportwagen messen wie Lancia Montecarlo oder Lotus Elite, allerdings verkaufte er sich auch kaum besser. Was weniger am stolzen Preis des bollernden Turbo-Trolls lag als daran, dass Saab bereits 1979 das modernisierte Modell 900 nachlegte. Mit größerem Radstand und Vorderwagen ausgestattet als der Saab 99, vor allem aber auch als Fünf- und Viertürer lieferbar und ab 1986 sogar als Cabriolet, wurde der Saab 900 Turbo angesagtes Statussymbol für Ärzte, Anwälte, Architekten und Künstler.
Ganz besonders galt das für den 1984 eingeführten 900 Turbo 16S mit üppigem Spoiler, der es dank Ladeluftkühlung und vier Ventilen pro Zylinder auf 129 kW/175 PS brachte. Damit lief der vorzugsweise dreitürig ausgelieferte Turbo über 210 km/h, was den Vierzylinder zum Linke-Spur-Feind vieler Sechsender und V8 machte. Ja, die Vmax war in den 1980ern noch relevant und das Saab-Turbo-Signet verkaufte sich auf Uhren, Taschen und modischen Accessoires erfolgreicher als manche Kollektion italienischer Sportwagenbauer.
Den Einstieg von General Motors (GM) in die weiterhin finanzknappe Automobilsparte des Saab-Konzerns konnte der Turbo trotzdem nicht verhindern. 1993 wurden die aufgeladenen Trolle abgelöst – durch eine neue 900-Generation mit GM-Genen. Zufall oder nicht: Im selben Jahr endete auch die Laufbahn des Volvo 240. Volvo-Chef Pehr Gyllenhammar würdigte den finalen 240 in einem Festakt als lebende Legende. Ein Nimbus, zu dem nicht nur seine Rolle als Safety-Car, sondern auch Turboversionen beigetragen hatten.Tatsächlich hatte sich Gyllenhammar 1979 dazu entschlossen, die Verkaufszahlen des Volksmobils 240 per Turbolader nach oben zu treiben. Wie Saab vertraute Volvo auf amerikanische Garrett-Turbolader, testete diese aber vor Serienstart im harten Polizeieinsatz. Chef-Testfahrer wurde Gyllenhammar persönlich, als er seine leuchtend rot lackierte Dienstlimousine mittels Lader auf 114 kW/155 PS Leistung erstarken ließ. Für freie Sicht und Bahn sorgte eine Scheinwerferbatterie an der Front des 190 km/h schnellen Fahrspaßgaranten.
Tempo 190, das ist schneller als vom heutigen Volvo-Chef Håkan Samuelsson erlaubt, der künftig bei 180 km/h abregeln lässt. Vor allem aber war es damals eine Ansage, denn der brave Volvo 244 L begnügte sich mit 155 km/h und das Sechszylinder-Flaggschiff 264 machte bei 180 km/h Schluss. Den eigentlichen Coup landete Volvo dann mit dem 245 Turbo Kombi, der zum familientauglichen Raserauto mutierte. Schon im Verkaufsprospekt präsentierte sich der nutzwertige Fünftürer als schwarzer Riese, dessen Hinterräder eine breite Gummispur auf den Asphalt radierten. Ein ernster Hinweis darauf, dass dieser schwedische Lademeister das Temperament hatte, den Mercedes 280 TE als damals weltweit schnellsten Transporter zu entthronen. In der Vmax gelang dies zwar nicht, aber beim Sprint auf Tempo 100 waren die von Volvo reklamierten 8,9 Sekunden ein Fabelwert.
Trotzdem ging noch mehr, wie Volvo 1983 zuerst in Nordamerika vorführte. Der Griff in die Turbo-Trickkiste zauberte den Ladeluftkühler inklusive 30-Extra-Pferdestärken herbei. „Fall in Love in 6.8 Seconds“, jubelte die Volvo-Werbung, denn der 240 Turbo Intercooler konnte sich im Sprintderby nun mit V8-Ferrari und Corvette messen. Die Krönung der 240er-Baureihe waren jedoch die zweitürigen Renn-Turbos, die als Gruppe-A-Tourenwagen auf über 257 kW/350 PS kamen. Zweifellos eine Antwort auf die Motorsporterfolge des ewigen Rivalen Saab – dort zeigte Rallyestar Stig Blomqvist das Potential des Turbos. Vor allem aber endgültiger Beweis dafür, welche Emotionen die liebevoll „fliegende Ziegelsteine“ genannten 240er freisetzen konnten. Siegfähig waren die Ziegel ebenfalls, wie 1985 der Gewinn mehrerer Tourenwagenmeisterschaften klarstellte. Auch nach dem Ende des 240 Turbo gab Volvo weiter Vollgas. Das stellte der folgende 850 Turbo sicher, der sogar als Kombi auf die Rennstrecke fand und bewies, dass Sicherheit auch in Schweden nicht das alleinige Thema sein kann.
Fotos: autodrom, Volvo