Deswegen möchte ich heute einmal einen kleinen Blick hinter die Tour-Kulissen werfen. In das sogenannte Village. Das ist so eine Art Nachrichtenbörse mit Gourmet-Charakter. Etwas für Leute also, die sowohl den Radsport, aber auch Frankreich, das Land und seine Menschen lieben. Und da zähle ich mich auch dazu.
Die wichtigsten Nachrichten über die Tour de France kursieren nämlich nicht etwa nach dem Zieleinlauf in den rollenden Fuhrparks der Teams oder in den üblichen Pressekonferenzen. Nein, wer etwas auf sich hält, wer stets auf dem Stand der Dinge sein will, der hat jeden Morgen vor dem Start einen Pflichttermin: den Besuch im „Village“ (Dorf).
Schon vor zwei Jahrtausenden gab es ein kleines Dorf in Frankreich, das damals Schlagzeilen machte. Es war bewohnt von unbeugsamen Galliern und zeichnete sich durch seinen kollektiven Widerstand mittels Zaubertranks eines gewissen Miraculix gegen die römischen Besatzer aus. Das Dorf, von dem hier die Rede ist, ist weit weniger kriegerisch, sondern seine Besucher sind in der Regel gut gelaunte, erwartungsfroh gestimmte Menschen, die dort jeden Morgen für ein bis zwei Stunden beisammen sind. Und es hat gegenüber dem Gallierdorf einen entscheidenden Vorteil: Es ist mobil, es wird an jedem Tag an einem neuen Ort aufgeschlagen.
Das „Village“ ist allmorgendlich der Tummelplatz von Fahrern, die dort nach der Einschreibkontrolle vorbeikommen. Von Journalisten, Prominenten oder von Gästen, die die jeweilige Etappenstadt für diesen Tag eingeladen hat. Das „Village“ bietet den Städten und Dörfern, durch die der dreieinhalbtausend Mann starke Tross der Tour Jahr für Jahr im Juli zieht, die beste Gelegenheit zur Selbstdarstellung. Bauern, Winzer und Sponsoren reichen an kleinen Ständen oder in prächtig herausgeputzten Pavillons regionale Köstlichkeiten, bei denen es sich vortrefflich plaudern oder Nachrichten austauschen lässt.
Daniel Mengeas, der langjährige Tour-Sprecher, aber mittlerweile „in Rente“, hatte das „Village“ einmal so präsentiert: „Dieser Ort ist für drei Wochen das Schaufenster Frankreichs für die Welt. Hier bekommen die Gäste und Berichterstatter aus aller Welt jeden Tag für ein bis zwei Stunden mit, was wir Franzosen unter Lebens- und Genusskultur verstehen.“ Savoir-vivre, die Kunst zu leben, nennt der Franzose so etwas.
Das „Village“ hat für Journalisten aber noch einen weitaus bedeutenderen Effekt. Es ist die alltägliche Nachrichtenbörse. Dort bietet sich die Gelegenheit, vor dem Start mit den Fahrern zu sprechen. Im „Village“ machen Gerüchte und (Halb-)Wahrheiten die Runde, natürlich aber auch Informationen aus erster Hand. Doch auch die neuesten Nachrichten der „L’Equipe“ und des „Figaro“, die dort ausliegen, werden ausgiebig diskutiert.
Allein Frankreichs größte Sportzeitung „L‘ Equipe“ berichtet jeden Tag ausführlich auf zehn Seiten (tatsächlich zehn!) über die Tour. Dafür sind rund 30 Redakteure, Mitarbeiter und Fotografen des Blattes dreieinhalb Wochen vor Ort. Das „Village“ ist aber auch so etwas wie ein lebendes Geschichtsbuch der Tour de France. Viele Helden der „grande boucle“, aus früheren Jahren und Jahrzehnten sind in mannigfacher Funktion mit der Tour unterwegs und schlürfen morgens im „Village“ bei der Zeitungslektüre den Kaffee, den der entsprechende Sponsor ausschenkt, aus kleinen Pappbechern.
Kein Wunder, dass die Städte sich Mühe geben, den Schauplatz des „Village“ in eine möglichst ansprechende Umgebung zu legen. Meist sind es Parks oder große freie Plätze, die etwas vom Geist der „Libération“, der Freiheit, zu den Gästen transportieren. So wie auch dieses Mal in Albi.
So gesehen ist das „Village“ nicht nur Schaufenster Frankreichs, sondern auch ein wenig Schmeichelei. Es hat von allem etwas, aber in jeder Aufmachung birgt es über dreieinhalb Wochen hinweg den unvergleichlichen „charme precisieuse“ der Marianne.
Fotos: Jürgen C. Braun