Meine Geschichte – Simon Reich: Die Kunst, die Dinge zu nehmen, wie sie kommen

Ob Titelkampf oder Kellerduell in der LIQUI MOLY HBL, ob Spitzenspiel oder Abstiegsthriller in der Handball Bundesliga Frauen, ob ein Nachbarschaftsderby in der 3. Liga oder die Finalrunde der Deutschen Jugend-Meisterschaft: Seit 2020 können die Schiedsrichter*innen des Deutschen Handballbundes (DHB) bei ihren Einsätzen auf die Unterstützung der KÜS bauen. Jede*r von ihnen investiert viel Zeit und Herzblut in die große Leidenschaft. Doch warum sind sie Schiedsrichter*in geworden? Welchen Weg sind sie gegangen? Und was hat ihre Karriere geprägt? Einer der knapp 300 Unparteiischen des Deutschen Handballbundes ist Simon Reich, der mit Hanspeter Brodbeck dem Elitekader angehört. Das hier ist seine Geschichte.

Spricht man mit Simon Reich und seinem Gespannpartner Hanspeter Brodbeck über ihre Schiedsrichter-Karriere, fällt immer wieder ein bestimmter Satz. „Wir nehmen es, wie es kommt“, sagt einer der beiden Freunde und oft müssen sie dann selbst ein bisschen schmunzeln, weil sie wissen, dass sie sich wiederholen. Doch diese Einstellung hat das Duo bis an die Spitze gebracht hat, denn dahinter stecken weder fehlender Ehrgeiz noch mangelnde Seriosität. Es ist vielmehr die Kunst, ihre Situation annehmen zu können und sich von den Kapriolen, die eine Karriere schlagen kann, ebenso wenig verrückt machen zu lassen wie vom Druck, bestimmte Punkte auf einer  imaginären Checkliste abhaken müssen.

Ob der Höhenflug in ihren ersten Jahren im Deutschen Handballbund, der coronabedingte Ausfall ihres ersten Final-Four-Turniers im DHB-Pokal der Männer, ihre einjährige Karrierepause oder die Finalansetzung bei den Frauen als Krönung danach: Brodbeck und Reich bleiben gelassen: „Als das Final Four der Männer abgesagt wurde, haben uns viele geschrieben, wie sehr sie uns dieses Erlebnis gewünscht hätten – uns ist jedoch klar geworden: Wir sind kein bisschen unglücklicher, weil es nicht geklappt hat. Es kommt, wie es kommt. Und auch, wenn wir irgendwann aufhören, ohne in Hamburg oder Köln gewesen zu sein, sind wir mit uns und unserer Karriere im Reinen.“

Anschließend kam es, wie es vielleicht kommen musste: Ein Jahr nach diesem Satz standen Brodbeck/Reich im Halbfinale beim REWE Final4 in Köln auf dem Parkett. Und auch, wenn Reich das Wort Highlight nicht mag – dazu später mehr – war es genau das: Ein Höhepunkt in ihrer 20 Jahre andauernden Karriere, deren Verlauf so anfangs jedoch nicht abzusehen war.

Als Brodbeck und Reich 2001 das erste Mal zur Pfeife griffen, besuchten sie noch gemeinsam die Oberstufe und liefen gemeinsam in der A-Jugend auf. Die ersten anderthalb Jahre sammelten sie als Einzel-Schiedsrichter Erfahrung, 2003 leiteten sie in der Bezirksliga ihr erstes Spiel im Team. „Am Anfang wollten wir gar nicht unbedingt in die Bundesliga, sondern nur das Logo von unserem Handballverband auf der Brust tragen dürfen“, erinnert sich Reich. „Dieser Button war für uns das große Ziel.“

Schritt für Schritt arbeiteten sie sich nach oben – und 2008 war es soweit: Über den Förderkader stiegen sie in die Oberliga in Baden-Württemberg auf und wurden nur ein Jahr später in die Regionalliga berufen. „Wir sind über jede einzelne Stufe froh“, sagt Reich heute. „Wir haben alle Kader durchlaufen und konnten in jeder Liga etwas mitnehmen.“

2010 folgte die Nominierung für den Nachwuchskader des Deutschen Handballbundes – und nun nahm die Karriere wirklich Fahrt auf. Über den Bundesligakader und das EHF Young Referee Project stieg das Duo zur Rückrunde der Saison 2012/13 in den Eliteanschlusskader auf – und bereits ein halbes Jahr später in den Elitekader. „Das kam für uns alles völlig überraschend“, erinnert sich Reich.

Das junge Team war zu dieser Zeit buchstäblich auf der Überholspur: 2011 das Debüt in der 2. Männer-Bundesliga, 2012 in der 1. Frauen-Bundesliga, 2013 in der 1. Männer-Bundesliga – und kurz darauf die erste Nominierung für ein Halbfinale beim Finalturnier der Frauen um den DHB-Pokal. „Wir waren blutjung und haben so ein Spiel bekommen. Das war natürlich cool“, blickt Reicht zurück. „Der damalige Schiedsrichterwart Peter Rauchfuß hat uns wirklich sehr früh tolle Spiele gegeben.“

Ihre Leistung blieb damals auch international nicht unbemerkt – und der europäische Verband rief. So machte das Duo seine ersten Erfahrungen in den europäischen Hallen und leitete 2016 sogar das Finale bei der männlichen U19-Europameisterschaft in Kroatien. 2017 gaben Brodbeck und Reich ihren internationalen Status jedoch aus freien Stücken zugunsten von Job und Familie auf. Das stieß nicht überall auf Verständnis. „Es war auch für uns eine harte Entscheidung, aber rückblickend war sie genau richtig und wir haben sie nie bereut“, betont Reich. „Wir haben  damals gemerkt, dass wir den Aufwand nicht mehr leisten können.“

National hielt sich das Duo jedoch in der Spitze; die beiden Freunde haben gerade ihre zehnte Saison im Elitekader absolviert. Was bei keinem ihrer inzwischen über 300 Spiele für den Deutschen Handballbund fehlte: Das so genannte ‚Kartenmischeln‘ in der Kabine, das „wichtigste Ritual vor einem Spiel“, wie Reich betont.

Gespannpartner Brodbeck ist für die Schiedsrichterkarten zuständig, auf der die Unparteiischen während einer Partie die Strafen vermerken. Bevor er Simon eine der Notizkarten gibt, mischt er sie immer – nach einer festgelegten Ordnung und in einer gewissen Anzahl von Mischvorgängen. „Die Rituale bilden ein Muster, das Sicherheit gibt“, erklärt Reich. „Du kannst dich als Schiedsrichter mit Taktikanalysen und Videostudium so viel vorbereiten wie du willst: Wenn du mit Anpfiff nicht abliefern kannst, bist du aufgeschmissen. Die Rituale helfen uns, genau auf den Punkt da zu sein.“

Gerade in den letzten drei Jahren ging es auf ihrer Karriere-Achterbahn – auch emotional – jedoch noch einmal extrem hoch und runter. Im Frühjahr 2020, kurz vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie, nominierte der damalige Schiedsrichterwart Wolfgang Jamelle das Team Brodbeck/Reich für das REWE Final4 2020. Es wäre ihre Premiere bei dem renommierten Finalturnier um den DHB-Pokal in Hamburg gewesen, doch coronabedingt wurde das Event abgesagt.

Kurz darauf trat der Handball für die beiden Freunde dann vollkommen in den Hintergrund, denn neben großen beruflichen Herausforderungen rückte die Familie besonders in den Fokus: Reich wurde zum zweiten Mal Vater, Brodbeck zum dritten Mal – und brauchte seine ganze Aufmerksamkeit, Kraft und Zeit für seine Familie, denn die kleine Tochter kam mit einer Behinderung zur Welt. „Das Karriereende war plötzlich wirklich greifbar“, erinnert sich Reich an die Zeit zurück. „Wir haben sehr offen miteinander gesprochen und ernsthaft darüber nachgedacht.“

Nach langen Überlegungen und vielen Gespräche entschieden sich Brodbeck und Reich gegen das Karriereende, doch bis sie im Herbst 2021 auf das Spielfeld zurückkehren sollten, verging trotzdem über ein Jahr. Das Duo fand jedoch schnell wieder rein und krönte ihre Saison mit dem Finale um den DHB-Pokal der Frauen. „Ein Finale ist das Nonplusultra. Es gibt kein Rückspiel, es gibt keine zweite Chance“, beschreibt Reich den besonderen Reiz, den solche Spiele haben. „Dass diese für uns so intensive Zeit in einem Finale mündete, war einfach saucool.“

Ebenso wie das Finale der U19-Europameisterschaft und das Halbfinale beim diesjährigen REWE Final4 der Männer gehört das Endspiel der Frauen zu den Highlights ihrer Karriere – auch, wenn Reich dieses Etikett eigentlich nicht mag. „Das hat oft den Beiklang, als würde man nur für diese Spiele pfeifen, aber das ist nicht so“, betont Reich. „Ein Highlight kann auch ein ‚normales’ Bundesligaspiel sein, das einfach geil ist. Ich bin letztes Jahr für ein Spiel in der Bezirksklasse eingesprungen, das war auf seine eigene Weise auch ein Highlight.“

An einem eigentlich spielfreien Wochenende war Reich dem Hilferuf seines Heimatvereins gefolgt. „Der Schiedsrichter hatte abgesagt und die Jungs haben gefragt, ob ich einspringen könnte, sonst müsste das Spiel ausfallen“, erinnert er sich mit einem Schmunzeln. „Ich bin also zu der Halle gefahren, in der ich früher selbst gespielt habe und habe ein Männerspiel auf Kreisebene im Bundesliga-Trikot gepfiffen, denn ich habe kein anderes Schiedsrichtertrikot mehr daheim.“

Für Reich ist das Pfeifen einfach sein Hobby, er definiert sich nicht über das Etikett ‚Bundesligaschiedsrichter’ – auch in der Firma nicht. „Die Schiedsrichterei wird im Jobumfeld positiv wahrgenommen, aber ich lasse nicht ‚raushängen‘, dass ich Bundesliga pfeife“, betont Reich. „Meine Kolleginnen und Kollegen haben ebenfalls ihre Hobbys; ich will deswegen nicht anders wahrgenommen werden.“

Nach seinem Zivildienst studierte Reich erst Produktionsmanagement und Automobilwirtschaft im Bachelor und absolvierte anschließend ein Master-Studium im Automobilmanagement. „Dass ich in die Automobilbranche will, war mir schon immer klar“, verrät er; auch sein Vater und sein Bruder arbeiten in diesem Bereich.

Vor acht Jahren trat der damals 30-Jährige seinen ersten Job als strategischer Einkäufer an und arbeitete sich über den Posten des Teamleiters zum Abteilungsleiter hoch. „Ich habe mir über das Pfeifen das Studium finanziert; dass ich erst verhältnismäßig spät angefangen habe, zu arbeiten, hat nie jemanden gestört“, betont er.

Für Termine bei Lieferanten reist Reich immer wieder durch Europa, nach Asien sowie Nord- oder Südamerika. „Ich bin gerne unterwegs“, freut er sich. Die Vereinbarkeit mit dem Pfeifen ist kein Problem, aber ein stetiger Spagat: „Ich koordiniere meinen Beruf und das Pfeifen, indem ich versuche, alle Termine immer so früh wie möglich mit allen Seiten – meinem Arbeitgeber, unserer Schiedsrichter-Chefin Jutta Ehrmann-Wolf und meiner Familie – abspreche. Mein Job und das Pfeifen wäre ohne Kompromisse im privaten Bereich nicht möglich und ich bin sehr dankbar, dass meine Familie mir diesen Spagat ermöglicht.“

Die Unterstützt ihrer Familien ist Reich – und auch Gespannpartner Brodbeck – sicher; an ein Karriereende denken die beiden aktuell nicht mehr bzw. noch nicht wieder. „Dass wir zu dem einen Prozent der Schiedsrichter gehören, das soweit oben pfeifen darf, ist – entschuldigt den Ausdruck – einfach geil“, betonte Reich die Bedeutung und fügt hinzu: „Das hätten wir uns zu Beginn unserer Karriere nie vorstellen können.“

Steckbrief Simon Reich 
Alter: 38
Beruf: Abteilungsleiter Einkauf und Supply Chain in der Automobilbranche
Familienstand: verheiratet, zwei Kinder
Schiedsrichter seit: 2001
Gespannpartner: Hanspeter Brodbeck
Kader: Elitekader
Karriere-Highlight: Finale der U19-Europameisterschaft 2016, Finale beim OLYMP Final Four der Frauen 2022, Nominierung für das REWE Final4 der Männer 2023
Ein Traum, der in der Schiedsrichterkarriere (noch) offen ist: Eigentlich habe ich keinen konkreten Traum mehr, der offen ist – dass wir inzwischen so lange dabei sind und so viel erleben durften, ist ein einziger Traum. Wir nehmen es, wie es kommt.

Fotocredit: Marco Wolf

Scroll to Top