Ob ein tadelloses Finale bei der Männer-Europameisterschaft 2022, die Olympia-Premiere in Tokio im Sommer 2021 oder heiße Duelle wie ein Endspiel im DHB-Pokal oder das traditionelle Nordderby zwischen dem THW Kiel und der SG Flensburg-Handewitt: Wenn man in der Schiedsrichter-Vita von Robert Schulze blättert, sticht einem so manch besonderes Spiel in Auge.
Er selbst wählt allerdings keinen dieser so klaren „Hochkaräter“ aus, sondern entscheidet sich für das Bundesligaspiel zwischen der TSV Hannover-Burgdorf und dem THW Kiel am 01. Februar 2020. Bis zur 20. Spielminute verlief die Partie völlig normal, doch dann verletzte sich Gespannpartner Tobias Tönnies – und Schulze stand die verbleibende Spielzeit alleine auf dem Feld.
„Es gab in den letzten Jahren natürlich viele besondere Spiele, dazu zählt auch definitiv das EM-Finale, aber diese Spiele sind alle unter normalen Umständen abgelaufen. Alles war eingespielt, wir konnten auf unsere Automatismen vertrauen und die Aufgabe als Team lösen“, erklärt Schulze seine Wahl. „Das, was in Hannover passiert ist, war vollkommen unvorhergesehen. Wir mussten improvisieren, denn diese Möglichkeit hatten wir nicht einkalkuliert.“
Nach seiner Verletzung, die sich später als Muskelbündelriss in der Wade herausstellen sollte, wurde Tönnies erst auf dem Feld behandelt. „In diesen Minuten habe ich noch mit dem ein oder anderen Spieler auf dem Feld gewitzelt: ‚Welche Trikotgröße hast du? Passt dir das Schiedsrichtertrikot?’“, erinnert sich Schulze und muss schmunzeln. „Ich habe einfach versucht, den Stress in Humor umzuwandeln, wir mussten ja irgendwie mit der Situation umgehen.“
Der Druckverband brachte jedoch keine Besserung. „Als Tobias zu mir gesagt hat: ‚Schulle, es geht nicht mehr‘, war für mich klar: Okay, jetzt muss ich das Spiel erst einmal bis zur Halbzeit hinkriegen und dann schauen wir weiter“, beschreibt Schulze. Er brachte das Spiel in die Pause – und dann tüftelten die beiden Kindheitsfreunde einen Notfallplan aus: Der verletzte Tönnies setzte sich ans Kampfgericht und unterstützte Schulze in der zweiten Halbzeit über den Knopf im Ohr.
„Wir wussten, dass wir einfach nur intelligent das Headset nutzen und die Aufgabenfelder anpassen müssen“, betont Schulze. Dass es funktionierte, überraschte ihn rückblickend nicht: „Wir haben keine Angst vor Dingen, bei denen wir erst einmal selbst nicht wissen, wie wir rauskommen, weil wir ein cooles Team sind.“
Trotz des großen Drucks brachten Schulze (auf dem Feld) und Tönnies (am Zeitnehmertisch) das Spiel zu Ende. „Ich fand es sehr angenehm, nicht komplett alleine dazustehen, weil ich den Support von Tobias im Ohr hatte. Seine Unterstützung und ein zweiter Blickwinkel waren hilfreich“, erinnert sich Schulze, der allerdings mit einem Augenzwinkern ergänzt: „Einige Kommentare von außen hätte er sich allerdings sparen können…“
Dieser ungewöhnliche Einsatz war für Schulze das erste Mal seit vielen Jahren, dass er alleine auf dem Feld stand – letztmals der Fall war es, so vermutet er, im Alter von 16 oder 17 Jahren, als er im jüngeren Jugendbereich pfiff. „Natürlich hoffe ich nicht, dass so etwas noch einmal vorkommt, aber rückblickend war es eine wertvolle Erfahrung“, fasst Schulze zusammen. „Wir haben es geschafft, mit den Emotionen umzugehen und gemeinsam eine Lösung zu erarbeiten. So haben wir auch diese ungewohnte Situation gemeistert. Es war für mich ein Moment, in dem ich mir gesagt habe: Siehst du, deswegen pfeift ihr beide zusammen.“
Er will die Herausforderung allerdings auch nicht klein reden. „Wir mussten von jetzt auf gleich das funktionierende System einer Spielleitung komplett verändern“, beschreibt er. „Du hast nicht mehr deinen Partner, deine klaren Aufgabenbereiche und den Support, sondern stehst unten in dieser Arena auf dem Feld und musst versuchen, dieses Ding alleine zu rocken.“
Das gelang wie gesagt mit Erfolg. Nach dem Spiel gab es in den Sozialen Netzwerken viel Lob für Schulze; auch zahlreiche Schiedsrichterkollegen und Weggefährten gratulierten. „So eine außergewöhnliche Situation ist immer irgendwie ein Höhepunkt“, hielt Schulze damals wenige Tage später fest. „Ich denke, was ich jetzt am Samstag erlebt habe, ist nicht nur das Highlight in diesem Jahr – sondern ein Erlebnis, über das wir auch mit 60 oder 70 Jahren, wenn wir ein Ehemaligentreffen der Schiedsrichter machen, noch sprechen.“ Insofern ist es nicht überraschend, warum Schulze ausgerechnet dieses gang besondere Spiel auswählte – und nicht das EM-Finale, die Olympia-Premiere oder ein Nordderby.
Wer ist Robert Schulze?
Robert Schulze (39) ist seit 1998 als Schiedsrichter aktiv. Als sein damaliger Gespannpartner vor einem Spiel kurzfristig erkrankte, überredete der Magdeburger seinen Kindheitsfreund und Mannschaftskollegen Tobias Tönnies, mit ihm zu dem Spiel zu fahren. Es war der Beginn einer Erfolgsgeschichte: 2007 leitete das Duo sein erstes Spiel in der 1. Bundesliga, 2012 folgte der erste Einsatz in der Champions League, dann rief der Weltverband. 2021 ging mit der Nominierung für die Olympischen Spiele in Tokio ein Lebenstraum in Erfüllung. Aktuell pfeifen Schulze/Tönnies ihre dritte Männer-Weltmeisterschaft (11. bis 29. Januar in Polen und Schweden). Beruflich arbeitet Schulze als Investment Sales Manager.
Fotocredit: Marco Wolf