Meine Geschichte – Manuel Lier: Der Schiedsrichter aus dem Heimatland der Neutralität

Ob Titelkampf oder Kellerduell in der LIQUI MOLY HBL, ob Spitzenspiel oder Abstiegsthriller in der Handball Bundesliga Frauen, ob ein Nachbarschaftsderby in der 3. Liga oder die Finalrunde der Deutschen Jugend-Meisterschaft: Seit 2020 können die Schiedsrichter*innen des Deutschen Handballbundes (DHB) bei ihren Einsätzen auf die Unterstützung der KÜS bauen. Jede*r von ihnen investiert viel Zeit und Herzblut in die große Leidenschaft. Doch warum sind sie Schiedsrichter*in geworden? Welchen Weg sind sie gegangen? Und was hat ihre Karriere geprägt? Einer der knapp 300 Unparteiischen des Deutschen Handballbundes ist Manuel Lier, der gemeinsam mit seinem Bruder Jan dem Bundesligakader angehört. Das hier ist seine Geschichte.

Ironischerweise war es ausgerechnet der Umzug in die Schweiz, ins sprichwörtliche Heimatland der Neutralität, welcher der Schiedsrichterkarriere von Manuel Lier die erste Delle nach einem steilen Aufstieg versetzte. Gemeinsam mit seinem Bruder Jan war der Stuttgarter damals innerhalb weniger Jahre in den Bundesligakader des Deutschen Handballbundes aufgestiegen, doch nach nur einer Saison folgte 2011 der unmittelbare Abstieg.

Kornwestheim, Deutschland 16. Februar 2022: 3. BL – 21/22 – SV Salamander Kornwestheim – TSV Neuhausen / Fildern

„Der damalige Schiedsrichterwart konnte sich nicht vorstellen, dass einer seiner Bundesligaschiedsrichter ins Ausland zieht und es dann mit dem Pfeifen noch funktioniert“, beschreibt Lier. „Auch, wenn St. Gallen nur drei Stunden von Stuttgart entfernt liegt, war es damals zumindest gedanklich aus der Welt.“ 

Kornwestheim, Deutschland 16. Februar 2022: 3. BL – 21/22 – SV Salamander Kornwestheim – TSV Neuhausen / Fildern

Für die Zwillinge kam die Entscheidung damals überraschend. „Die Saison lief eigentlich glatt“, erinnert sich Lier an die erste Spielzeit im Bundesligakader. „Als wir die Nachricht erhalten haben, war es daher schon eine Enttäuschung.“ Ans Aufhören dachten sie jedoch nicht: „Das Pfeifen hat uns Spaß gemacht, da stellte sich die Frage nicht.“ 

Dabei hatten Lier und sein Bruder erst verhältnismäßig spät zur Schiedsrichterei gefunden. Während viele ihrer Kolleg:innen mit 15 oder 16 Jahren das erste Mal die Pfeife in die Hand nahmen, waren die Zwillinge bereits im Abitur. „Wegen der Einführung des Schiedsrichtersolls war die Not echt groß, unser Verein hat händeringend Schiedsrichter gesucht“, erinnert sich Lier.

So stieg der damals 19-Jährige, neben seiner eigenen Spielerkarriere bereits als Jugendtrainer engagiert, in seinem letzten Schuljahr als Unparteiischer ein. Bleibende Erinnerungen an seine ersten Einsätze hat er nicht. „Es lief unspektakulär“, sagt er heute. Nach dem in Stuttgart vorgeschriebenen halben Jahr als Einzelschiedsrichter schlossen sich die Zwillinge zu einem Gespann zusammen.

Kornwestheim, Deutschland 16. Februar 2022: 3. BL – 21/22 – SV Salamander Kornwestheim – TSV Neuhausen / Fildern

„Wir haben schon als Kinder die Wochenenden gemeinsam in der Halle verbracht, als Jugendliche viele Spiele geschaut und zusammen über die Schiedsrichter gelästert“, schmunzelt Lier. „So haben wir bereits früh eine gemeinsame Spielauffassung gehabt, das hat uns sicherlich geholfen – und es war nie ein Thema, mit jemand anderem zu pfeifen.“

Die Karriere des äußerlich ungleichen Duos („Uns glauben viele nicht, dass wir Brüder sind.“) nahm schnell Fahrt auf: Bereits nach der zweiten Saison stiegen die Zwillinge aus dem Bezirk in den C-Kader des HV Württemberg auf, ein Jahr später folgten der Schritt in den B-Kader des Landesverbands, dann ein weiteres Jahr später der Schritt in den A-Kader sowie den Nachwuchskader der damaligen Regionalliga. 2009, nur sieben Jahre nach ihrem Anwärterlehrgang, waren sie im Nachwuchskader des Deutschen Handballbundes angekommen – und pfiffen ihr erstes Zweitligaspiel. 

Kornwestheim, Deutschland 16. Februar 2022: 3. BL – 21/22 – SV Salamander Kornwestheim – TSV Neuhausen / Fildern

„Wir waren unheimlich aufgeregt“, erinnert sich Lier an das Duell zwischen dem TuSpo Obernburg und der HG Saarlouis. „Es war eine echte Feuertaufe, wir waren gleich mit einer roten Karte gefordert. Insgesamt lief es jedoch sehr gut und ich weiß noch, wie froh wir darüber waren.“ Dass die Brüder für das Pfeifen sowohl das eigene Spielen als auch ihre Jugendmannschaften aufgeben mussten, haben sie nie bereut: „Wir waren beide als Spieler nur durchschnittlich talentiert“, grinst Lier. „Als es dann als Schiedsrichter in Richtung Regionalliga ging, waren wir uns Gott sei Dank einig.“ Seine Jugendmannschaft habe er hingegen nur „schweren Herzens“ abgegeben. 

Der Einsatz wurde jedoch schnell belohnt: Nach nur einer Saison im Nachwuchskader ging es hoch in den Bundesliga. Parallel schloss Lier sein Studium im Technologiemanagement ab – und die Jobsuche verschlug ihn ins eingangs erwähnte Heimatland der Neutralität: Er zog für eine Anstellung als Prozessingenieur bei einem mittelständischen Betrieb in der Gießereibranche nach St. Gallen in der Schweiz.

„Ich bin in Stuttgart zur Schule und zur Universität gegangen – und wollte für meine persönliche Entwicklung den Schritt weg aus der Heimat machen“, beschreibt er. „Ich kannte das Unternehmen aus dem Studium und die Herausforderung, dort noch etwas aufbauen und bewegen zu können, hat mich gereizt.“ 

Es sollte sich als die richtige Entscheidung herausstellen: Lier arbeitete sich in der Hierarchie nach und nach aufwärts, heute betreut er als Teamleiter für die Prozessentwicklung und Anlagenplanung acht Mitarbeiter. Als das Unternehmen Werke in China und Tschechien aufbaute, durfte er immer wieder mehrere Wochen vor Ort sein. „Das waren spannende Phasen“, schwärmt er. 

Seiner Begeisterung für die Schiedsrichterei tat der neue Job keinen Abbruch „Wenn die Ansetzungen kommen, wird alles andere drumherum geplant“, betont Lier. „Ich arbeite viel, aber dadurch kann ich es mir auch so einrichten, wie es für das Pfeifen notwendig ist.“ Bisweilen nahm es allerdings durchaus leicht absurde Züge an: Beim Aufbau des Werkes in China war seine Anwesenheit vor Ort kurzfristig länger als geplant notwendig. Um das für das Wochenende geplante Spiel nicht absagen zu müssen, stieg Lier ins Flugzeug – jeweils elf Stunden hin und zurück für eine Partie in der Jugendbundesliga. „Das war grenzwertig, aber ich wollte das“, schmunzelt er. „Und es hat immer alles funktioniert.“ 

Denn wie sich herausstellen sollte, war der Abstieg in die 3. Liga nur ein kurzes Intermezzo: 2013 stiegen die Brüder wieder auf und haben sich seitdem im Bundesligakader etabliert. „Wir gehören inzwischen quasi zum Inventar“, lacht Lier. „Und im Nachhinein muss man sagen, dass uns die zwei Jahren in der 3. Liga nach dem steilen Aufstieg in den Vorjahren nicht geschadet haben.“ 

Bietigheim, Deutschland 30. Maerz 2022: 2. BL – 21/22 – SG BBM Bietigheim vs. HSG Nordhorn-Lingen

Die Zwillinge genießen es, sich über die vergangenen zehn Jahre ein Standing erarbeitet zu haben. „Wir spüren die Wertschätzung, es ist ein Vertrauen zu Spielern und Trainern gewachsen und wir haben uns gerade von der Persönlichkeit her weiterentwickelt“, beschreibt Lier. „Der gleiche Pfiff, der uns vor zehn Jahren noch nicht abgenommen wurde, wird heute sofort akzeptiert – und auch über einen krummen Pfiff wird mal hinweggesehen.“

Dass der zeitliche Aufwand durch seinen Schweizer Wohnort größer geworden ist, nimmt Lier gelassen hin: Bei Ansetzungen am Wochenende fährt er am Vortag nach Stuttgart zum Bruder oder zu den Eltern; er genießt die Fahrt. „Ich kann im Auto super abschalten“, sagt Lier. „Früher habe ich viel telefoniert, jetzt genieße ich die Ruhe oder höre Musik.“ Mitsingen ist hingegen ein No-Go, denn „das will ich niemanden – auch nicht mir selbst – antun“, wie er mit einem Lachen festhält. 

Die größte Herausforderung stellen, wie für die anderen Kolleg:innen auch, die Wochentagsspiele dar. Sind die Brüder am Mittwoch angesetzt, geht es für Lier über Nacht in die Schweiz zurück – je nach Entfernung des Spielorts zur Grenze ist er auch mal erst um vier oder fünf Uhr morgens daheim. „Das ist natürlich manchmal hart, aber es gehört dazu“, hält der 39-Jährige gelassen fest. „Ich will es nicht missen.“ 

Dass es in zehn Jahren nie für den Schritt in den Elite-Anschlusskader – und damit die LIQUI MOLY HBL – gereicht hat, stört Lier nicht. „Wir waren mehrmals knapp davor, aber es ist nicht schlimm, dass es nicht geklappt hat“, betont er. „Wir hätten es natürlich mitgenommen, aber wenn es nicht kommt, wird uns nichts fehlen. Die Spiele in der 1. – und 2. Frauen-Bundesliga und die 2. Männer-Bundesliga haben ein tolles Niveau und wir freuen uns über jedes Spiel.“ Das Wichtigste für die Brüder sei es, „dass das Pfeifen Spaß macht – und wenn das irgendwann nicht mehr der Fall ist, werden wir aufhören.“

Steckbrief Manuel Lier

Alter: 39
Beruf: Teamleiter Prozessentwicklung
Familienstand: ledig
Schiedsrichter seit: 2002
Gespannpartner: Jan Lier
Kader: Bundesligakader
Karriere-Highlight: Das Finale von „Jugend trainiert für Olympia“ 2009. Das Finale um die Deutsche Meisterschaft der B-Jugend 2021. Und die Entscheidungsspiele um Auf- oder Abstieg zu Saisonende.
Ein Traum, der in der Schiedsrichterkarriere (noch) offen ist: Ich habe da kein bestimmtes Erlebnis im Kopf. Es gibt nichts, das uns fehlt oder die Karriere perfekt machen würde. Wir wollen einfach noch so lange wie möglich mit dem Spaß, der Freude und der Wertschätzung, die uns entgegengebracht wird, weitermachen.

Fotocredit: Marco Wolf, privat

Nach oben scrollen