Volkswagen: 60 Jahre Variant

Familie, Ferien, Station Wagon, im Sommer 1962 erreichte der Hype riesiger US-Kombis in Nordamerika einen neuen Höhepunkt. Auch im Europa des Wirtschaftswunders waren Kombis als Lademeister für Handel und Handwerk längst unentbehrlich, aber Nutzis als schickes Familienauto? Diesem Anspruch genügten bewährte Frachter wie Ford Turnier oder Opel Caravan selten, mehrheitsfähig als Fahrzeug für Lebenslust und Freizeitkultur wurden die deutschen Kombis erst mit dem 1962 vorgestellten Volkswagen 1500 Variant (Typ 3).

Ausgerechnet dieser für Käfer-Aufsteiger konzipierte, konservative Heckmotor-Typ setzte einen historischen Meilenstein als erste europäische Mittelklasse, die immerhin von der Hälfte der Kundschaft mit praktischem Kombiheck gekauft wurde. Damit begann die inzwischen 60-jährige Erfolgsgeschichte der Variant-Modelle, die Familien- und Freizeittypen aller Größen hervorbrachte: Auf die gutbürgerlichen Boxer VW 1500/1600 und 411/412 folgten bis heute gefragte Bestseller wie Passat und Golf. Aber auch kleine, kurzlebige Spezialitäten á la Polo und Bora Variant, scharfes Chili mit GTI- und R-Sportabzeichen, Allterrain genannte Crossover-Kost, erlesene Haute Cuisine mit W8-Motor und Connolly-Leder im Passat, bis hin zu Plug-in-Pionieren und extravaganten Arteon Shootingbrakes. Wolfsburg wagte oft mehr Kombi als die Konkurrenz, riskierte sogar Flops, aber vielleicht ist genau dies der Grund, warum die Variant-Idee bis ins SUV-Zeitalter überleben konnte.

Eine Idee, deren Ursprünge in Amerika zu finden sind. Dort war es der überwältigende Erfolg des als Station Wagon beworbenen VW Bulli T1, der Werner Jansen, Chef von VW-Kanada, 1960 animierte, in Wolfsburg einen klassischen Kombi anzufragen, und zwar als stilvolles Vielzweckmobil auf Basis des zweitürigen „Squareback“-Sedan Typ 3. Schon der Bulli T1 hatte in Nordamerika Kultstatus erlangt, weil er trotz Miniabmessungen mehr Gepäck fasste als die unhandlich langen Chromkreuzer aus Detroit. Außerdem blieb das niedersächsische Blechkleid über Jahre frisch, während die Mode über die US-Modelle in schnellen Schritten hinwegging. Werterhaltende Modellkonstanz bestimmte deshalb auch den langen Lebenszyklus des VW 1500/1600 Variant, der erst 1974 im ersten Passat einen Nachfolger fand. Bis dahin überzeugte der Typ 3 Variant mit den zwei Kofferräumen (vorn und hinten) mehr als 1,2 Millionen Käufer (damals eine Ansage), und er verbreitete die Variant-Idee über den ganzen Globus.

Nicht nur den Nordamerikanern gefiel die konstruktive Verwandtschaft des Tailgate-Typ 3 zum altgedienten, aber zuverlässigen Käfer. Immerhin konnte der Kombi die vertraute VW-Technik Mitte der 1960er um Hightech-Features anreichern: „A car with a computer in it“. Dieser US-Werbeslogan passte zum damals laufenden Weltraum-Wettrennen, bei dem die USA die Nase vorn hatte – auch wenn der „Computer“ im VW 1600 nur aus einer neuartigen elektronischen Benzineinspritzung bestand. Derartige technische Raffinessen waren in Südamerika nicht gefragt. Dort mischte der eigenständig gezeichnete VW 1600 Variant bzw. Variant II den Kombi-Markt auf, bis 1980 ein Probelauf der heutigen Kooperation zwischen VW und Ford initiiert wurde: Der damals neu eingeführte Passat Variant wurde in Brasilien parallel als Ford Royale produziert.

Mit steigendem Wohlstand wuchsen in Europa und USA Ende der 1960er die Ansprüche der Autokäufer. Plötzlich hatte der Typ 3 Variant gegenüber neuen, leistungsstärkeren und moderneren Wettbewerbern das Nachsehen. Für Wolfsburg Anlass, 1969 nachzulegen, diesmal mit dem Flaggschiff VW 411 Variant mit selbsttragender Karosserie, mehr Kofferraumvolumen und mehr Komfort, wie ihn auch Amerikaner goutierten, aber weiterhin im Heckmotorlayout. Die Zukunft für diese Fahrzeuge aus Käfers Vermächtnis sah nicht allzu rosig aus. Lediglich ein Triumph gelang dem 1972 zum 412 aufgewerteten größten Luftgekühlten: Er verkaufte sich besser als der erste Frontantriebs-VW vom Typ K70.

Und dann kam er, der Passat. Benannt nach jenen von Seglern so geschätzten Tropenwinden, führte dieser Volkswagen 1973/74 ganz Wolfsburg auf frischen Kurs. „Passat. Mit diesem Auto beginnt etwas Neues“, titelte die Einführungskampagne zum Mittelklassemodell, das mit moderner Technik und erster fünftüriger Variant den Schlussstrich unter die Heckmotorära des Autogiganten setzte. Tatsächlich fand der Passat den Pfad aus der Krise, in die der VW-Konzern gestürzt war, nachdem Käfer & Co. den Zenit der Erfolgskurve überschritten hatten. Mit wassergekühltem Frontmotor und Vorderradantrieb war der Passat Variant außerdem Vorbote des Golf Variant. Zwei junge Wilde, die in den 1970er und 1980er Jahren alle europäischen Kombis und Downsizing-Amis das Fürchten lehrten.

Während der kompakte Golf vom Konzept stets sehr europäisch war, war der größere Passat ein globaler Verwandlungskünstler, der fast alle regionalen Sonderwünsche erfüllte. So gab es den Passat Variant unter dem Label Audi Fox für USA und Rechtslenkermärkte, als Corsar für Mexiko oder Carat für Argentinien oder schlicht VW Variant in China. Zurück zum Heimatmarkt. Hier genügte der ersten Passat-Generation ein Facelift mit Kunststoffstoßfängern, um bis zum 1980 erfolgten Modellwechsel im Kombisegment frisch und vorn zu bleiben. Der in den Abmessungen deutlich größere Passat Variant B2 präsentierte sich 1981 mit technischen Überraschungen. Zum Innovationsbündel zählten Allradantrieb, Turbodiesel, Fünfzylinder-Benziner und spritsparende Formel-E-Technik, die ihrer Zeit allerdings zu weit vorauseilte.

Auch mutiges Design wird nicht immer belohnt. Diese Erfahrung machte der Passat Variant, als er in dritter Auflage (1987 bis 1993) auf einen klassischen Kühlergrill verzichtete. Die als Pellkartoffel-Design verspottete Form wurde deshalb von der vierten Passat-Generation (1993 bis 1997) revidiert. Zugleich erfolgte nun eine Höherpositionierung der Kombis durch Premium-Attribute. Zunächst waren dies kompakte Sechszylinder, starke TDI-Diesel, in der fünften Generation (1996 bis 2005) aber auch eine kostspielige Achtzylinder-Maschine. Der Passat Variant als kleiner Audi A8 Avant, das wollten die Kunden dann doch nicht akzeptieren. Einen besonderen Erfolg lancierte Volkswagen dagegen mit dem Alltrack in Offroadoptik, der als Derivat der siebten Passat-Generation (ab 2009) eingeführt wurde und sich als Crossover-Alternative etablierte.

So gleichmäßig und beständig wie die Passatwinde über die Meere wehen, gelingt es bis heute dem achten Passat Variant, die Erfolgsgeschichte der Baureihe fortzuschreiben. Ein Plug-in-Hybrid darf zwar sein, beim jüngsten Golf Variant stehen überdies Erdgas-Version und ein furioser Golf R 4Motion zur Wahl, ansonsten aber verzichten die VW Variant auf Experimente. Immerhin haben die Wolfsburger Kombis genau so die meisten ihrer Konkurrenten überlebt, die dem SUV-Hype gewichen sind. Erlkönige eines zukünftigen Passat Variant B9 wurden übrigens bereits gesichtet, für Kombi-Fans die beste Nachricht zum Volkswagen-Variant-Jubiläum.

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