1.200 elektrische PS: Ritt auf der Schaeffler’schen Kanonenkugel

Eine nüchtern wirkende Ansammlung von Zahlen, meist von Mathematikern für Zeitgenossen gemacht, die mit derlei trockenen Zifferngebilden nicht viel am Hut haben: Das soll uns "Normalsterblichen" helfen, wenn wir Dinge verstehen wollen, die bis dato bloß in unserer Vorstellung "herumgeistern". Größenordnungen, Entfernungen, "reich" versus "arm" und andere Phänomene des Alltags.

So war es auch in diesem Fall an einem kalten, trockenen, aber sehr sonnigen Novembertag auf einem kleinen, winkligen Erprobungskurs im Badischen. Direkt an der Grenze zum Elsass. „Driving Center Baden“ stand auf dem schmucken Transparent entlang des Fahrsicherheitszentrums am Rande des Baden-Airparks. Dort sollte ich an jenem Tag – um auf die eingangs erwähnten Zahlenspielereien zurückzukommen – ein Fahrerlebnis genießen, das eine Systemleistung in sich barg, die irgendwo jenseits der persönlichen Vorstellungskraft lag. Nicht, dass ich nicht schon Automobile gefahren hätte, die ein paar 100 PS unter ihrer Motorhaube versteckt hatten. Der eine oder andere vierrädrige Kraftmeier-Bolzen hatte auch schon deren 500 und ein paar Gequetschte mehr auf die Kurbelwellen gestemmt. Aber dieses Erlebnis bedeutete eine neue Dimension.

„1.200 PS“ stand auf dem Datenblatt des Schaeffler 4ePerformance. Ein Fahrzeug, angetrieben von vier Elektromotoren aus der Formel E. Jener Serie, die vor vier Jahren ins Leben gerufen wurde, um den „grünen“ Motorsport (also den ohne Verbrenneraggregate mit fossilen Treibstoffen) salonfähig zu machen. Der Zuliefererkonzern Schaeffler, weltweit im Milliarden-Spiel am Ball, hatte dieses Konzeptfahrzeug – ein Unikat – erstellt.

Und ich sollte heute Gelegenheit haben, an der Seite von Daniel Abt in den „Genuss“ einer Taxifahrt mit diesem Boliden der Motorsportzukunft zu kommen. Daniel (25), ein Sproß der Allgäuer Tuningschmiede Abt, gehört zum Team Audi Abt Schaeffler, das sich in diesem Jahr die Team-Weltmeisterschaft in der Formel E sicherte. Elektroautos hatte ich zwar auch schon gefahren. Dann aber erstens selbst und nicht als Beifahrer und zweitens mit weniger als zehn Prozent der Leistung dieses grün-weißen Ungetüms.

Bevor wir beide uns für ein paar Runden auf den Weg machen, dreht der Experte noch zwei, drei Runden. Ich sehe ihm zu und höre – fast nichts. Nur leises, surrendes Pfeifen in den höchsten Tönen. Wie beim Zahnarzt, wenn dessen Bohrer bei knapp 20.000 Umdrehungen angelangt ist. Tinnitusähnlich. Dann wird es ernst. Feuersichere Haube, Fahrerhelm. Es beginnen die Verdosung und das Festzurren meiner Person in dem mit hochmoderner E-Technik vollgestopften, grün-weißen E-Mobil.

Der Renningenieur hatte zuvor für mich, der ich nicht gerade ein Experte in derlei Technik bin, Aufklärungsarbeit geleistet. Je zwei Motoren aus dem Abt-Schaeffler-Formel E-Monoposto der Saison 2016/17, hatte ich erfahren, bilden je eine Antriebsachse. Sie entwickeln rund 300 PS und 320 Newtonmeter, drehen bis zu 14.000 Umdrehungen pro Min. Das Gewicht beträgt gerade mal 25 Kilogramm. Eine Trockensumpfschmierung bewirkt, dass die Eingangsgetriebe ohne Differenzial ihre Arbeit verrichten können.

Das Gesamtgewicht von 1,8 Tonnen, das ein unglaubliches Leistungsgewicht von 1,5 Kilogramm pro PS ergibt, ist in erster Linie auf die Stahlkarosserie des unter dem Kleid ruhenden Audi RS3 TCR und auf den 64-kWh-Akku zurückzuführen. Dann also nix wie raus auf den Kurs. In den folgenden wenigen Minuten erlebe ich dann die unglaublichste Leistungsentfaltung meiner bisherigen Berufslaufbahn. Ohne Vorwarnung, ohne Milli-Gedenksekunde – weil ja beim E-Motor das gesamte Drehmoment sofort zur Verfügung steht – werde ich in meinen Gurten scheinbar auf den Asphalt hinausgeschossen.

Einer inneren Eingebung folgend, hatte ich am Morgen auf Frühstück verzichtet, was sich jetzt als „goldene Präventiv-Maßnahme“ erweist. Auf den kurzen Geraden, auf denen die Wucht von 1.200 PS ungezähmt einsetzt, fühle ich mich in etwa so, wie es weiland Baron von Münchhausen bei seinem zur Legende gewordenen Ritt auf der Kanonenkugel ergangen sein muss: In den spitzen Haarnadelkurven beschleicht mich das Gefühl, als habe mein Magen quasi neben mir Platz genommen und selektiere seine kärglichen Inhaltsreste. Dazu die gespenstische Stille. Nichts, außer immerwährendes hohes Pfeifen.

Nach wenigen Minuten ist das irgendwie unwirklich anmutende Spektakel vorbei. Und ich ertappe mich bei einem kleinen, „über den Daumen gepeilten“ Zahlenspiel. Das Fahrzeug, mit dem ich angereist war, hatte 120 PS. Das sind zehn Prozent dessen, was dieser Ausbund an Wucht und Wumms zu leisten vermag. Aber: Zahlen können Vieles aber längst nicht alles ausdrücken. Es geht nichts über das eigene Empfinden. Und das ist gut so.

Text und Fotos: Jürgen C. Braun

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