Es ist das größte Land der Erde, die Zahl der Einwohner ist unerreicht und seit der schrittweisen Liberalisierung des Kommunismus ist es auch der Motor der Weltwirtschaft – an China führt kein Weg mehr vorbei. Doch wissen wir über das Reich der Mitte erschreckend wenig. Das jedenfalls ist der Eindruck, den man auf einem Roadtrip gewinnen kann, wenn man das Land mit eigenen Augen und deshalb auf eigener auf eigener Achse erkundet. Denn sobald man Städte wie Shanghai oder Peking mal verlassen hat, ist es mit der globalen Kultur nicht mehr weit her und man muss schon ziemlich polyglott sein, wenn man sein Ziel ohne Umwege erreichen will.
Das liegt zum einen sicher an unserer westlichen Arroganz. Doch machen es einem die Chinesen auch nicht leicht. Nicht nur, dass man sich mühsam und langwierig um ein Visum bemühen muss. Nein, auch den Führerschein wollen sie so einfach nicht anerkennen. Deshalb braucht man erstens eine beglaubigte Übersetzung und muss zweitens nochmal zur Prüfung in die Kaserne der Verkehrspolizei. Dort allerdings gilt es weniger, die Kunde und Treue der Regeln unter Beweis zu stellen, als die körperliche Eignung: Als ginge es nochmal zur Musterung, wird man in einem halben Dutzend Amtsstuben von freundlichen alten Damen in nicht mehr ganz so weißen Kitteln vermessen, macht Hör-, Seh- und Reaktionstests und muss unter den gestrengen Blicken des medizinischen Dienstes ein paar Kniebeugen machen und sich den Blutdruckmessen lassen. Fehlt nur noch, dass man sich bücken und husten muss. Aber andererseits: Wer sich auf dieses Abenteuer einlässt, der sollte vielleicht auch fit sein.
Ja, die Metropolen mögen mittlerweile ziemlich westlich wirken und nicht viel anders sein als Paris, London oder New York. Wenn da nicht ihre schiere Größe wäre, die die Vorstellungskraft sprengt und den ganzen Fahrer fordert. Bei inoffiziell über 45 Millionen Einwohnern ist es kein Wunder, dass Shanghai aus allen Nähten platzt und dass die Straßen selbst mit acht oder zehn Spuren den Verkehr kaum fassen können. Nicht umsonst geht zwischen morgens um sieben und abends um elf nicht viel voran.
Sobald man allerdings einmal den Ballungsraum Shanghai verlassen hat, der auf der Fläche von Luxemburg mehr Menschen und Autos beheimatet als alle Benelux-Länder zusammen, ist man unterwegs in einer völlig fremden Welt. Ja, die Häuser und der Verkehr werden lichter und schon nach zwei, drei Stunden ist man auf den erschreckend gut ausgebauten Landstraßen sogar mal für ein paar Minuten ganz alleine. Doch nichts ist hier, so wie es scheint: In vermeintliche hypermodernen Tankstellen werden die Quittungen noch von Hand geschrieben, hinter spiegelnden Fassaden warten gammelige Garküchen und selbst die Autos wirken nur auf den ersten Blick vertraut. Denn zum Beispiel die Mercedes C- und E-Klassen für diesen Trip kommen nicht aus Bremen oder Sindelfingen, sondern aus Peking und werden dort ausschließlich mit verlängertem Radstand für mehr Beinfreiheit im Fond gebaut. Nicht so sehr, weil sich der Chinese gerne chauffieren lässt. Sondern weil er anders als der Europäer öfter mal seine Eltern mitnimmt. Die haben nämlich in der Regel selbst gar keinen Führerschein, weil die Massenmotorisierung erst vor 30 Jahren begonnen hat.
So groß das Land ist und das Chaos, das auf den Straßen herrscht. so gut ist es organisiert oder so gut organisiert es sich selbst. Die Verkehrsführung ist kompliziert aber durchdacht, die Straßen sind gut ausgebaut und – wenn auch außerhalb der Metropolen nur in Chinesisch gut beschildert – und egal ob Mautstelle oder Ampelkreuzung mit Countdown – alles ist auf maximale Effizienz getrimmt.
Dass der Verkehr halbwegs gesittet abläuft, man in diesem Chaos überraschend wenige ernsthafte Unfälle sieht und das Hupen eher als freundliche Geste denn als Aggression wahrgenommen wird, liegt zum einen sicher am Naturell der Chinesen, die einen Hang zum Phlegmatismus haben und sich ihrem Schicksal ergeben – selbst wenn das ein Stau von vielen Stunden ist. Aber es liegt auch daran, dass China seinem Ruf als Überwachungsstaat alle Ehre macht: Alle paar Minuten meldet das Navigationssystem eine Kamera, die mal die strickten Tempolimits kontrolliert, mal die roten Ampeln und mal dafür Sorge trägt, dass niemand die Busspur benutzt. Über den Tag summiert sich das auf mehrere hunderte, und weil die Strafen hart sind und die Toleranzen gering, hält sich jeder ziemlich genau an die Regeln. Da braucht es ansonsten gar keine massive Polizeipräsenz mehr, um das Chaos in kontrollierten Bahnen zu halten.
Außerdem erkennt man auf dieser Tour über Land sehr schnell, weshalb den Chinesen das Infotainment wichtiger ist als der Antrieb: Nicht nur, weil jeder Chinese im Schnitt sechs Stunden online ist am Tag. Sondern auch, weil man ohne Smartphone selbst auf der Straße hilflos aufgeschmissen ist. Man bucht damit seinen Shuttle beim Uber-Konkurrenten Didi oder den Fahrer, der nach einem feuchtfröhlichen Abend den Wagen heil nach Hause bringt, man hat selbst dann eine aktuelle Navigation, wenn sich der Straßenverlauf quasi im Tagesrhythmus ändert, und vor allem hat man nur dann das allgegenwärtige WeChat, das den Alltag der Chinesen stärker regiert als jede andere App: Man bezahlt damit seine Autobahngebühr, tankt seinen Wagen oder lädt seinen Akku und selbst die Strafzettel werde damit online beglichen.
Schaut man in die Fahrzeuge hinein, erkennt man durchweg junge Gesichter. Und die Chinesen nicht nur jünger, sie sind auch gieriger auf immer neue Autos: Während Märkte wie Deutschland oder die USA mit über 600, 700 Fahrzeugen pro 1000 Einwohner längst gesättigt sind, haben im Reich der Mitte erst 70 von 1 000 Bürgern einen eigenen Wagen. Seit zehn Jahren verkauft Mercedes deshalb 70 Prozent seiner Neuwagen an Menschen, die noch nie vorher ein Auto besessen haben. Selbst ein Viertel der S-Klasse-Kundschaft zählt zu den PS-Novizen. Im Rest der Welt liegt dieser Schnitt über alle Baureihen bei fünf bis zehn Prozent.
Auch deshalb ist der Fuhrpark der Chinesen ist erschreckend modern. Natürlich lässt die Quote der westlichen Importmodelle auf dem Land ein wenig nach und man sieht nicht ganz so viele Audi, BMW oder Mercedes wie in den Städten, wo die deutschen Nobelmarken nahezu die Oberhand haben. Doch selbst das, was die lokalen Marken mittlerweile auf die Räder stellen, kann sich sehen lassen. Und weil es erstens kaum einen Gebrauchtwagenmarkt gibt und zweitens die meisten Kunden noch immer ihr erstes Auto kaufen, ist der Zustand der Fahrzeuge überraschend gut.
Wie überall steht auch bei den Chinesen das SUV hoch im Kurs. Und wie in allen Dingen sind Maos Erben ein bisschen extremer und konsequenter als der Rest der Welt. Deshalb rechnen Experten damit, dass schon bald jedes zweite neue Auto in China ein Geländewagen sein könnte. Nicht umsonst hat zum Beispiel Maybach gerade hier seine eigenwillige Kreuzung aus Limousine und SUV präsentiert und hätte den Wagen von der Messe weg ein paar Dutzendmal verkaufen können – egal, welchen Preis die noble Mercedes-Tochter dafür aufgerufen hätte.
Zwar ist der Wandel in China unaufhaltsam und das Tempo der Entwicklung atemberaubend. Doch als Autofahrer darf man es Reich der Mitte nicht eilig haben. Auf dem Land nicht, weil die Tempoüberwachung selbst im hintersten Winkel nahezu lückenlos ist. Und in den Städten nicht, weil es dort schon jetzt zu viele andere Autos gibt. Die Durchschnittsgeschwindigkeit liegt bei 29 km/h und ist damit kaum halb so hoch wie etwa in Deutschland. Und die Rushhour ist die Hölle, erst recht, wenn es regnet. Zumindest das ist offenbar überall auf der Welt gleich.
Text: Benjamin Bessinger/SP-X
Fotos: Daimler