Deutschland 1966. Rezession und Revolution bestimmten die Autowelt. Das Wirtschaftswunder erfuhr nach zwei Jahrzehnten wachsenden Wohlstands erste Dämpfer, wovon rückläufige Neuzulassungszahlen und untergehende Marken wie Glas, DKW und Panhard kündeten. Gleichzeitig gab es aber aufregende Neuzugänge, die das Establishment irritierten. Ausgerechnet die kleinste Klasse wollte jetzt die Großen ärgern und Opel Kapitän oder Mercedes 200 auf der Autobahn von der angestammten Überhol- und Statusspur vertreiben. Pralle Power und furiose Vmax lautete die Formel für ganze Geschwader werksgetunter Mini-Muskelmänner mit Sportabzeichen wie Cooper, Gordini, Monte Carlo oder Rallye.
Dahinter verbargen sich rund 30 kesse Kleinwagen von Austin/Morris, Renault, Simca oder Opel, nicht zu vergessen alle aufsässigen Heckmotor-Zwerge von Abarth/Fiat, Steyr-Puch und einem halben Dutzend weiterer Marken. Außerdem der hochdrehende Honda S800, Café-Racer von MG oder Riley, Rallyestars wie der Saab 96 und rasende Rookies wie der NSU TT als Vorbote für die GTI-Ära der 1970er. Kurz, vor 50 Jahren gab es bei den Kleinen erstmals ein grellbuntes Kaleidoskop aus verführerischen Außenseitern und Spitzenreitern, die sich sämtlich als flott-flinke Alternative empfahlen zu allen minimalmotorisierten Langweilern.
Fang uns doch, Du dicker Benz! Du darfst uns jagen, wenn Du kannst, rennerfahrener BMW der Neuen Klasse. Nicht einmal vor Dir, schneller Porsche 912, haben wir Respekt. Dieses Spiel vermeintlicher Underdogs aus der Kleinwagenszene mit den etablierten Schnellen der linken Spur sollte nach Meinung der Marketingstrategen fast aller Marken vor allem junge Männer faszinieren. Eine Zielgruppe, die mit Kompakten aus dem Kraftklub – möglichst mit Ölkühler und Zusatzscheinwerfern als Erkennungszeichen – ihr eigenes Selbstbewusstsein stärkte.
Tatsächlich trafen die Werbeleute damit exakt den Nerv der Zeit. Stand doch maximales Tempo seit Beginn des Weltraumrennens zum Mond in der westlichen Welt für Erfolg und Überlegenheit. Zugleich schickte das Aufbegehren gegen Konventionen, das sich 1967/68 in gesellschaftlichen Unruhen entlud, seine Vorboten in die Autowelt. Dort distanzierte sich die Jugend vom Fahrer mit Hut, weshalb etwa Opel seinen kleinen Kadett mit Rallyestreifen in der Werbung wie eine Rakete in Cape Canaveral abgehen ließ: „4-3-2-1-Rallye Kadett. Count-down für unsere kleinste Rakete… Mit 60 PS bei guten 5.200 Umdrehungen. Er liebt die starke Hand, das kurze, schnelle Schalten… Rallye-Kadetts fahren ihre schwarzen Streifen nicht zum Spaß spazieren.“ Aussagen, die verfingen und dem bezahlbaren Rallye-Kadett beachtliche Lieferzeiten bescherten. Als ein 66 kW/90 PS-Motor nachgelegt wurde, verfügte der Kadett sogar über doppelt so viel Leistung unter der Haube wie das Basismodell. Die Piloten dieses Rallye-Kadett wurden derweil „Jäger der Prominentenklasse genannt“, konnten sie doch auf freier Strecke sogar Kapitän und Admiral scheuchen. Jene repräsentativen Sechszylinder, die Rüsselsheim der „Prominentenklasse“ zuordnete.
Gesellschaftlich noch höher hinaus ging es mit den Wild Boys aus Neckarsulm: „Fahre Prinz und Du bist König“, lautete das NSU-Credo. So richtig stimmte das aber erst, als die 685 Kilogramm leichten Fahrmaschinen per TT-Logo auf die Motorraderfolge bei der Tourist Trophy verwiesen. Und passend dazu mit bis zu 51 kW/70 PS (NSU TTS) auf der Autobahn manchen BMW oder Porsche 356 ihre zur Wärmeabfuhr des Motors aufgestellte Heckklappe zeigten. Kleine Könige waren die Heckfeger übrigens auch im Motorsport, wo sie Tourenwagenrennen gewannen und als Gesamtsieger die längste Rallye der Welt, die „Tour d‘Europe“ beendeten.
Vorbild für die angehobene Heckklappe bei NSU waren die Abarth/Fiat als früheste Schrecken der etablierten Vollgaszunft. Vor allem als ehedem 13 kW/18 PS schwacher und 95 km/h langsamer Fiat 500, der unter den Händen des PS-Magiers Carlo Abarth zum 140-km/h-Kugelblitz 695 SS mit 28 kW/38 PS mutierte. Allein der österreichische Hersteller Steyr-Puch toppte Abarths Zweizylinder: Steyrs 500-Derivat brachte es als Modell 650 TR auf maximal 30 kW/41 PS und beherrschte Rallyes fast nach Belieben. Trotzdem reichte es gegenüber Abarth nur zum Achtungserfolg, denn Abarth beherrschte ja noch ganz andere Kaliber. Fiat 600 etwa, die kraftstrotzende 63 kW/85 PS an die Hinterachse lieferten…
Damit nicht genug an neuen, ungezähmten Heckmotormodellen. Während der amerikanische Verbraucheranwalt Ralph Nader sein Buch „Unsafe at any speed“ (dt.: Unsicher bei jeder Geschwindigkeit) verfasste und den Chevrolet Corvair mit Heckmotor zum Aufhänger für die erste öffentlich geführte Debatte um sichere Autos machte, erntete 1966 in Europa sogar der zum VW 1500 erstarkte Käfer Zuspruch. Echten Enthusiasmus auf Messen und in Medien weckten aber zwei Franzosen: Die 180-km/h-Kanone Renault 8 Gordini und das Simca 1200 Coupé als Vorbote des höllisch-heißen Simca 1000 Rallye. Zwei neue Gallier, die im Grunde ihres Wesens viertürige 40-PS-Biedermänner waren, so wie der in die Jahre gekommene Renault Dauphine Gordini. Diesen hatte Amédée Gordini durch 24 kW/33 PS vitalisiert, wirklich berauschend war jedoch erst die Leistungsentfaltung des R8, der Amédées Namen trug. Mit 76 kW/103 PS brannte er Tempo 180 in den Asphalt, womit der Viertürer fast so schnell war wie der Heckmotor-Sportwagen Porsche 912.
Nicht kleckern, sondern klotzen lautete auch die Leistungs-Devise der BMC Britsh Motor Corporation, wenn es um den Mini ging. Dieser hatte es dank der Rennwagenmanufaktur eines gewissen John Cooper zum Status des weltweit ersten Hochleistungs-Kleinwagens moderner Konzeption gebracht. Ein Volksheld und Vollstrecker, dem 57 kW/78 PS reichten, um es mit reinrassigen Sportwagen aufzunehmen. Ein Wahnsinn waren die Fahrleistungen des Mini ganz besonders im Vergleich mit anderen Briten. Die gleichfalls vom genialen Konstrukteur Alec Issigonis konzipierten MG 1100, Riley Kestrel und Wolseley 1100 mit auf 41 kW/55 PS leistungsgesteigerten Vierzylindern wirkten im Vergleich geradezu flügellahm, denn der 175-km/h-Cooper war 40 km/h schneller. Noch schlimmer sah es für den Vauxhall Viva Brabham aus, der den Namen des gleichnamigen Formel-1-Stalls führte: Der Viva verfügte über ebenso viele PS wie der Cooper, lieferte aber nur 146 km/h Vmax. Da schmunzelten sogar die Piloten der kuriosen Hillman/Sunbeam Imp. Kantige Heckmotormodelle, die ob ihrer konstruktiven Schwächen nicht nur in ihrer schottischen Heimat Zielscheibe von Spott und Häme waren.
Heute gehört jede der Krawallbüchsen auf die Liste der bedrohten Arten. Was nicht nur daran liegt, dass ihre Fahrer gerne den Grenzbereich ausgelotet haben. Sondern auch am Raritätenstatus der leistungsgesteigerten Leichtathleten. Kosteten die wilden Kompakten doch oft das Doppelte oder gar Vierfache ihrer harmlos motorisierten Verwandten – so dass ein Mini Cooper S ebenso teuer wurde wie ein Mercedes 200!
Text: Wolfram Nickel/SP-X
Fotos: Hersteller/SP-X