Das Phänomen ist durchaus auch in Westeuropa bekannt: Selbst als der Peugeot 206-Nachfolger 207 schon auf dem Markt war, konnte der 206 noch günstig als Neufahrzeug erworben werden. Auch den Škoda Octavia Tour gab es noch in Deutschland, als der Nachfolger längst eingeführt war. Undenkbar für eine deutsche Premium-Marke jedoch, ein ausgelaufenes Modell günstiger auf dem Heimatmarkt anzubieten. Doch ein verflossenes Nutzfahrzeug auf einem Fremdmarkt? Warum nicht?
So macht es Mercedes beispielsweise mit dem Sprinter. Unter der verheißungsvollen Bezeichnung Sprinter Classic können russische Kunden jenes Sprintermodell T1N erwerben, das hierzulande bereits 2006 auf dem Modell-Friedhof landete. GAZ fertigt den robusten Transporter im Auftrag von Mercedes-Benz – und der kann sich durchaus sehen lassen. Mit einer schönen Lackierung versehen wirkt dieser Vorgänger so gar nicht altbacken und könnte auch einem hiesigen Handwerker oder den Fuhrpark-Entscheidern diverser anderer Unternehmen gefallen. Selbstbewusst prangt der Schriftzug „Sprinter Classic“ auf der Außenhaut des ansehnlichen Fahrzeugs.
Freilich spielt Mercedes in die Hände, dass die russische Regierung das Thema mit den Abgasnormen noch nicht ganz so eng sieht wie die europäische Union oder andere Staaten. Auch ein elektronisches Stabilitätsprogramm ist in Russland keineswegs Pflicht. Unter der Haube des Sprinter Classic werkelt der OM646 – ein Commonrail-Diesel, der erstmals in der E-Klasse W211 zum Einsatz kam. Wie der Sprinter selbst wird auch sein Aggregat von GAZ gefertigt, und zwar im Motorenwerk Jaroslawl. Eike Winges, Leiter der Werke Nischni Nowgorod sowie Jaroslawl, wo die Motoren für den Sprinter Classic gebaut werden, versichert, dass in den russischen Fabriken exakt die gleiche Qualität produziert werde wie in allen Mercedes-Werken rund um den Globus.
Und auch wenn der Sprinter Classic nicht das neueste Modell ist – die Techniker entwickeln ihn kontinuierlich weiter. Bald werde man beispielsweise die Euro 5-Norm erreichen, so Winges. An Kraft fehlt es dem Commonrail nicht, kann er doch bis zu 125 kW/170 PS freisetzen. In erster Linie muss der vielseitige Transporter günstig und praxistauglich sein – da stört es nicht, wenn die Interieur-Generation ein wenig schmuckloser wirkt als jene der aktuellen Ausführung. Das Modell ist beliebt vor Ort, 6.000 Einheiten verkauft Mercedes pro Jahr, und das, obwohl das Land gerade von einer nachhaltigen Wirtschaftskrise erfasst wurde.
Man sei in der Lage, viel mehr Autos zu bauen, betont Winges – nahezu 20.000 Sprinter könnten das Band bei voller Auslastung verlassen. Und das Marktumfeld ist nicht gerade einfach, schließlich möchte GAZ selbst so viele der Gazelle genannten eigenen Transporter wie möglich an den Mann bringen. Doch die Auftragsfertigung lohnt sich für das russische Unternehmen. Vorstandschef Vadim Sorokin erklärt, bei dieser Sparte sei man in der komfortablen Situation, sich keine Gedanken um Dinge wie Kundenbedürfnisse oder Modellpolitik machen zu müssen. Und der Mann weiß, wovon er redet – schließlich stellt GAZ neben leichten Nutzfahrzeugen auch Busse, Fahrzeug-Komponenten wie Einspritzanlagen oder Leiterrahmen, große Lkw und Traktoren her.
Text: Spot Press Services/Patrick Broich
Fotos: Daimler