Rückblick: Ein Sommer der Cabrios

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Es war das Jahr maximaler automobiler Entfaltungsmöglichkeiten. Der Sommer 1964 drehte zu großer Hitze auf und die Automobilindustrie antwortete darauf mit einer noch nicht dagewesenen Flut an Frischlufttypen. Nie fühlten sich Cabriofans dem Himmel näher. Allerdings verloren sie manchmal fast die Übersicht im neuen Meer der Möglichkeiten. 225 Modelle von 70 Marken aus neun Ländern, das gab's nur einmal. Als schöne Schaumkrone des automobilen Wirtschaftswunders bezeichnete die Fachwelt diese überwältigende Vielfalt an Faltdach-Fahrzeugen. Kündeten doch anfangs extravagante Coupés vom wiedergewonnenen Wohlstand der Nachkriegsära bis jetzt die noch kostspieligeren Open-Air-Stars folgten.

Kostspielig waren sie vor allem, was den Aufpreis gegenüber geschlossenen Blechkisten betraf. Ansonsten gab es sie in allen Preisklassen: Vom offenherzigen, winzigen Fiat-500-Derivat Autobianchi Bianchina mit Zweizylinder-Motor bis zum furiosen V12-Ferrari 275 GT Spider für die Schönen und Reichen, vom fröhlichen Ghia Jolly-Strandwagen mit mageren 15 kW/21 PS bis hin zu 317 kW/431 PS mächtigen Muscle Cars wie Ford Galaxy, Dodge Coronet oder Plymouth Belvedere. Auch das Roadster-Programm war komplett vom kippeligen dreirädrigen Bond Roadster aus England mit 9 kW/12-PS-Einzylinder bis zur gefährlichsten aller Giftnattern, der AC Shelby Cobra mit 313 kW/425 PS-V8 und Wheelspin-Garantie.

Nagelnde Diesel vertrugen sich damals zwar noch nicht mit der Freude am Fahren unter freiem Himmel, wohl aber die penetranten Duftmarken von Roadstern mit Zweitakt-Motoren, also Auto Union DKW F12 und DKW 1000 SP, während die DDR-Zweitakt-Marke Wartburg gerade einen Roadster fürs nächste Jahr fit machte. Einen vollkommen neuen turbinenartigen Sound generierte dagegen der NSU Wankel Spider, das erste Serienfahrzeug mit Kreiskolbenmotor. Neben dem klassischen Antriebslayout Motor vorne und Antrieb hinten bei allen Roadstern vom kleinen Austin-Healey Sprite bis zum Jaguar E-Type, gab es Frontantrieb bei DKW und Lancia Flavia und Heckantrieb mit hinten positioniertem Motor bei Porsche 356 und Volkswagen Käfer Cabrio, aber auch die Schiffsschraube im Amphibienfahrzeug Amphicar (gebaut in Berlin) und den Allradantrieb beim offenen SUV-Pionier International Scout.

Verblüffend vielfältig waren sogar Karosserien und Chassis, die einerseits Vorkriegs-Kastenrahmenkonstruktionen wie im Morgan 4/4 umfassten, aber auch innovative Kunststoffkleider wie bei Elva und Reliant. Hinzu kamen Autos, die Bastelkünstler auch als Bausatz bestellen konnten, wie den englischen Ginetta. Sogar das viertürige Cabriolet war noch nicht ausgestorben, obwohl die Verwindungssteifigkeit bereits diskutiert wurde. Allerdings hatte der prominenteste aller offenen Viertürer, das Lincoln Continental Convertible, gerade erst ganz andere Schlagzeilen gemacht. War doch der amerikanische Präsident John F. Kennedy im offenen Lincoln durch Berlin paradiert bei seinem umjubelten Deutschlandbesuch im Sommer 1963. Das gewaltige nachtblaue Convertible bot den richtigen Rahmen für Kennedys triumphale Fahrt, neben sich Willy Brandt, den regierenden Bürgermeister West-Berlins, und Konrad Adenauer, den ersten deutschen Bundeskanzler. Ein Motiv für die Titelseiten. Vier Monate später füllte der Lincoln erneut die Frontseiten, diesmal allerdings in Trauerfarben nach dem tödlichen Attentat von Dallas.

In Deutschland war derweil Ludwig Erhard, der Vater des Wirtschaftswunders, nach 14 Adenauer-Jahren an die Macht gekommen. Vollbeschäftigung, kräftige Lohnzuwächse – allein elf Prozent gegenüber dem Vorjahr, allerdings noch bei 42-Stunden-Woche – und das „Wir-sind-wieder-wer“-Gefühl bestimmten das Wirtschaftsleben in Deutschland. Leistung und Leistungssymbole waren gefragt wie noch nie, kaum ein Autohersteller, der noch auf Coupés und vor allem Cabriolets verzichten wollte. Ähnlich sah es fast überall in der westlichen Welt aus. Die Menschen waren in Aufbruchstimmung. Die Jugend machte den Minirock zur Mode und Beatles und Beach Boys bewirkten Massenhysterien. Dagegen differenzierten sich die Baby-Boomer, Amerikas erste Nachkriegsgeneration, durch drehmomentgewaltige Muscle Cars von den Biedermännern ihrer Eltern. Leistungsexplosionen, die auch die Convertibles erfassten und von diesen gab es nun ebenfalls mehr als zuvor.

Ob Buick, Cadillac, Chevrolet, Chrysler, Cord, Dodge, Excalibur, Ford, Imperial, International, Lincoln, Mercury, Oldsmobile, Plymouth, Pontiac, Rambler oder Thunderbird, sie alle schickten schnelle und starke Sonnensegler auf amerikanische Oceanboulevards und europäische Promeniermeilen. 17 US-Marken, davon fast alle mit mehreren Klappdachmodellen, das war einzigartig. Und schon 1976, als mit einem Cadillac Convertible das vermeintlich letzte US-Cabrio eingestellt wurde, längst wieder vergessen. Wobei es hierzulande Mitte der 1960er Jahre allerdings fast nur Ford Mustang und Chevrolet Corvette zu nennenswerter Verbreitung brachten.

Welche Sonnenbänke auf deutschen Straßen besonders populär waren? Überraschenderweise nicht die erfolgsverwöhnten Mittelklassestars von Opel und Ford. Zwar gab es Rekord und Taunus auch ohne Dach, dies aber nur vom exorbitant teuren Karossier Deutsch. Stattdessen waren optionale Faltschiebedächer in Limousinen populär (die heute bereits als Cabrio bezeichnet werden) und natürlich offene VW Käfer, Karmann-Ghia, Mercedes-Benz SL, Porsche 356, englische Roadster (Austin-Healey, Jaguar, MG, Sunbeam und Triumph), südeuropäische Spider (Alfa, Alpine, Innocenti) und Cabriolets (Citroën, Fiat, Lancia, Peugeot und Renault). Nicht zu vergessen der preiswerte tschechische Škoda Felicia, der vor 50 Jahren seinen letzten Sommer erlebte.

Rar waren dagegen die Verdecktypen vom niederbayerischen BMW-Rivalen Glas, die kostspieligen DKW Roadster und der futuristische NSU Wankel Spider. Galt dieser Rotarier bereits als besonders drehfreudig, war dies nichts gegen die überraschendste Roadster-Sensation auf europäischen Straßen: Den Honda S 500. Bei bis zu 9.000 Touren kreischten die flinken Flitzer wie wild gewordene Wüstenrennmäuse und lieferten dennoch die Basis für Hondas Aufstieg zum weltweit erfolgreichen Automobilhersteller.

Auch Datsun/Nissan hatte bereits einen Roadster im englischen Design nach Europa geschickt: Der Fairlady Sport bereitete den Boden für die späteren Fairlady Z-Sportwagen. Kaum weniger exotisch wirkte auf den ersten Blick der brasilianische Willys Interlagos A108, der sich bei genauerer Betrachtung allerdings als Lizenz eines früheren französischen Alpine-Cabriolets offenbarte und deshalb offiziell nicht in Europa verkauft werden durfte. Anders dagegen die schicken Charmebolzer von Asa (Italien), Autobianchi, Enzmann (aus der Schweiz), Lotus (der Elan wurde Vorbild für den Mazda MX-5), Osca oder Osi. Bis auf Lotus durchweg Namen, die heute nur noch Enthusiasten mit rebellischen Roadstern assoziieren.

Bleiben noch die majestätischen Cabriolets fürs fürstliche Vergnügen von Präsidenten, Royals und Geldadel. Während Bundeskanzler Ludwig Erhard den Mercedes-Benz 600 als neue Staatskarosse übernahm, bereitete Stuttgart bereits die Auslieferung des 600 Landaulet vor. Mit 6,24 Metern das längste Seriencabrio der Welt, das zudem kostspieliger war als alle Konkurrenten der Liga von Bentley S3, Rolls-Royce Phantom V, Cadillac Fleetwood oder Lincoln Continental. Der Himmel stand eben allen offen in jenem strahlend-schönen Sommer des Jahres 1964.

Text: Spot Press Services/Wolfram Nickel
Fotos: Audi, Iso Rivolta, Nissan, Plymouth / SP-X

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