Alles begann mit einem Missverständnis. Während ABS-Pionier BMW das 1988 vorgestellte erste ABS stets als das pries, was es sein sollte – eine Möglichkeit, auch bei Notfallbremsungen die Fahrstabilität zu gewährleisten –, bestanden die Könner unter den Motorradfahrern, insbesondere jene in den Motorradmagazinen, darauf, viel besser bremsen zu können als es das ABS vermochte. Der Nachweis gelang ihnen – vordergründig: Denn unbestreitbar konnten vor 25 Jahren gut trainierte Fahrer unter definierten Bedingungen (Trockenheit, guter Grip) ohne ABS kürzere Bremswege realisieren als mit der BMW K 100-ABS. Sie war das erste Motorrad, das ab 1988 auf Wunsch und gegen 1.980 DM Mehrpreis mit einem ABS ausgerüstet werden konnte. Das ABS I von BMW wog 11,1 Kilogramm.
Heute, immerhin 25 Jahre später, hat das ABS im Motorrad zumindest in den zentraleuropäischen Ländern den Durchbruch längst geschafft; die Regelintervalle sind mittlerweile so kurz, dass selbst Brems-Experten keine Vorteile mehr herausbremsen können – von den Problemen bei Nässe und Widrigkeiten wie Laub oder Öl auf der Straße mal ganz abgesehen. Dieser Tage meldete Ausrüster Bosch, einer von einem halben Dutzend Anbieter, dass die Million produzierter ABS-Einheiten für Motorräder voll sei. Das Systemgewicht liegt mittlerweile bei unter einem Kilogramm.
Während das ABS beim Auto für permanente Lenkbarkeit der Räder sorgt und damit auch bei Vollbremsungen Ausweichmanöver möglich macht, ist die Anforderung beim Motorrad eine andere: Stürze durch Radblockaden soll das System vermeiden, also die Fahrstabilität sicherstellen. Denn ein länger als nur Sekundenbruchteile blockiertes Vorderrad ist praktisch die Garantie für einen Sturz. Konsequenz: Viele Motorradfahrer bremsen aus Angst nur schwach, auch im Notfall, wenn es auf den letzten Meter ankommt. Oder sie überbremsen und prallen rutschend in das Hindernis. Nur wenige sind in der Lage, in einer Notfallsituation ein blockierendes Vorderrad sauber zu kontrollieren und scharf entlang der Blockiergrenze zu verzögern, wo der Bremsweg am kürzesten ist.
Die ABS-Entwicklung durch BMW hatte bereits Mitte der 1970er Jahre begonnen. Doch es dauerte bis zum Herbst 1987, bis man das System der internationalen Presse auf dem Berliner Flughafen Gatow vorstellen konnte. Trotz des bei vielen Journalisten verbreiteten Unverständnisses griffen die K 100-Kunden zur Freude von BMW zu: Schon 1989 wurden rund 70 Prozent aller georderten K 100-Modelle mit ABS ausgeliefert, 1992 lag die Ausrüstungsquote bei dieser Modellreihe bereits bei 90 Prozent!
Während in den 90er-Jahren alle japanischen Hersteller nach jeweils einem kurzen Versuchsballon ihre wenigen ABS-Versionen mangels Nachfrage wieder vom deutschen Markt nahmen, hielten BMW und – eingeschränkt – auch Honda am ABS fest. BMW legte technisch nach, brachte das verbesserte ABS II, Honda tüftelte an einem Kombi-Bremssystem, genannt „Combined Brake System“. Erst nach etwa 20 Jahren wurde auch den Zweiflern klar, dass ein Motorrad mit ABS nicht nur bei kritischen Straßenverhältnissen, sondern mittlerweile selbst auf trockener Fahrbahn besser verzögerte als ohne.
Jetzt schwenkten auch die bislang reservierten Hersteller Ducati, Harley-Davidson, KTM und Triumph um und begannen, erste Modelle ihrer Baureihen mit ABS ins Programm zu nehmen. Mittlerweile war außer Bosch auch Conti Automotive in die ABS-Entwicklung eingestiegen, auch der italienische Bremsenhersteller Brembo bot ein ABS an. Harley-Davidson bezog seine Systeme vom US-Zulieferer Delphi, Triumph von Nissin in Japan. Ducati setzte, wie später auch KTM, auf Bosch. Auch Kawasaki und Suzuki sind inzwischen, zusammen mit Moto Guzzi, treue Bosch-Kunden. Insbesondere das aktuelle Bosch 9M, die neunte ABS-Generation des Stuttgarter Automotive-Riesen, ist ein echter Bestseller; es wird in verschiedenen, unterschiedlich aufwändigen und deshalb unterschiedlich leistungsfähigen Versionen angeboten. In der Version 9ME ist es als Combined-System ausgelegt und mit einem Schräglagensensor kombinierbar; 2009 wurde es erstmals von BMW im Supersportmotorrad S 1000 RR als „Race ABS“ präsentiert.
Auch Honda kam 2009 mit einem rundstreckentauglichen Kombi-Bremssystem auf den Markt, das mittlerweile seit Jahren erfolgreich in der IDM-Rennserie eingesetzt wird. Ab Anfang 2014 ist die höchste Entwicklungsstufe in Form einer Motorcycle Stabililty Control (MSC) für die KTM 1190 Adventure erhältlich: Mit MSC ist das ABS absolut schräglagentauglich; auch bei Notbremsungen während einer Kurvenfahrt bleibt das Motorrad kontrollierbar, denn weder blockiert ein Rad noch richtet sich das Motorrad über Gebühr auf.
Schon zu Beginn des Modelljahres 2013 floss bei BMW wie bei KTM eine Neuentwicklung auf dem ABS-Sektor in die Serie ein: Sowohl Conti Automotive wie auch Bosch hatten zusammen mit BMW bzw. KTM ein System entwickelt, das bei Fahrten auf unbefestigten Straßen anders reagiert als auf Asphalt. Im Geländeeinsatz sind herkömmliche ABS-Systeme nämlich nicht bei allen Fahrbedingungen vorteilhaft. Sowohl das Conti-ABS der zweiten MIB-Generation wie auch das Bosch 9 ME weisen die Möglichkeit auf, im Offroad-Betrieb mehr Schlupf zuzulassen, also die Regeleingriffe später zu setzen.
Weil das ABS mittlerweile auch in den Schwellenländern anfängt, Furore zu machen, setzen die ABS-Hersteller inzwischen auf den Bau technisch sehr einfacher und damit sehr preisgünstiger Systeme; so bietet Conti für den indischen Markt ein MAB an, das dort in die Top-Baureihe eines lokalen Premiumherstellers integriert wird. Fertig entwickelt ist bei Conti wie bei Bosch ein Einkanal-ABS, bei dem lediglich das Vorderrad blockiergeschützt ist; die weit überwiegenden Mehrzahl der Stürze wegen Fahrzeug-Instabilität beim Bremsen wird nämlich bereits dann vermieden, wenn das Vorderrad nicht blockieren kann.
Text: Spot Press Services/Ulf Böhringer
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