Auf den ersten Blick ist es ein Bus wie jeder andere. Denn auf dem legendären Las Vegas Boulevard sind jede Nacht viel spektakulärere Fahrzeuge unterwegs als der 1993er Eagle von Dr. Jason Burke. Und wenn über den „Strip“ fast 24 Stunden am Tag Lastwagen mit überlebensgroßen Plakaten von knapp gekleideten Tänzerinnen fahren, schaut erst Recht keiner so genau nach dem silbernen Riesen mit dem himmelblauen Wolkendekor und der Reklame für den „Hangover Heaven“.
Doch der erste Eindruck täuscht. Denn Burke betreibt nicht irgendeinen Reisebus. Er ist Mediziner und sitzt in einer Klinik auf Rädern, die nur einen Zweck hat: Sie kuriert den Kater, den sich die Gäste bei einer Feier am Abend zuvor eingehandelt haben. Und davon gibt es in Las Vegas jede Menge: „Nacht für Nacht ziehen zehntausende von Menschen über den Strip, feiern in Clubs und Casinos, lassen sich fast bis zur Besinnungslosigkeit volllaufen und wundern sich am Morgen danach über eine dicken Schädel und das flaue Gefühl im Magen“, sagt Burke und nennt den Kater bei einem Namen, den auch bei uns mittlerweile nicht nur die Kinogänger kennen: „Hangover“.
Dass dieses Kater in Las Vegas meist schlimmer ist als anderswo, hat viele Gründe, sagt Burke: Alkohol ist billig, die Nächte sind lang, eine Sperrstunde gibt es nicht und rauschende Partys gehören für die Reisenden zum Las-Vegas-Programm wie der Blick auf die Golden Gate-Bridge beim Besuch von San Francisco. „Dazu noch das trockene Wüstenklima und die leidige Vorliebe für Cocktails mit Red Bull und Wodka oder diesen furchtbaren Jägermeister, da ist ein Brummschädel fast schon vor programmiert.“
Doch der studierte Anästhesist weiß, wie man auch den dicksten Kater kuriert. Schließlich trinkt er selbst gerne mal ein paar Gläser Wein und hat an einem mühsamen Montagmorgen herausgefunden, dass die Katersymptome letztlich die gleichen sind wie die nach einer Operation. Deshalb hat er sich genau wie seinen Narkose-Patienten selbst eine Infusion mit Traubenzucker, Kochsalzlösung und Vitaminen gelegt und sich danach so viel besser gefühlt, dass es bis zum „Hangover-Heaven“ nur noch ein kleinen Schritt brauchte. Und einen langen Papierkrieg mit den Gesundheitsbehörden. „Die waren zwar von der Idee sehr angetan, aber sie haben partout keine Paragraphen gefunden, zu denen mein Programm gepasst hätte“, erinnert sich Burke an die Planungsphase vor gut einem Jahr. „Also haben sie mir irgendwann einfach so eine Genehmigung erteilt und mich erst mal machen lassen.“
Dass Burke dabei in einem Bus praktiziert, war anfangs nur eine Notlösung, weil ihm die Räume für eine Tagesklinik am Strip schlicht zu teuer gewesen sind. Doch am Ende erwies sich das sogar als Glücksgriff. „Schließlich will mit einem ausgewachsenen Kater niemand mehr durch die Stadt laufen, in ein Taxi steigen oder sich selbst hinters Lenkrad klemmen“, hat Burke gelernt. Jetzt holt er seine Patienten direkt vor der Lobby der Luxushotels ab und verspricht erste Hilfe im Handumdrehen: „Eine kurze Befragung, eine kleine Untersuchung und nach fünf Minuten hängen die Patienten am Tropf.“ Zwischen 45 und 90 Minuten dauert es, bis die Infusionen eingelaufen sind. „Aber schon nach einer Viertelstunde fühlen sie die meisten viel besser“, sagt Burke. Deshalb sieht sein Bus auch eher nach Lounge aus als nach Lazarett: Zwar gibt es für besonders schwere Fälle auch vier Pritschen. Aber die meisten Patienten sitzen auf weißen Ledersofas, schlürfen Kaffee und surfen im Internet, während der Bus mit seiner eigens nachgerüsteten Luftfederung ganz, ganz sanft über den Las Vegas-Boulevard schwebt.
Ein knappes Jahr ist Burke jetzt unterwegs – und hat jede Menge zu tun. Rund 4.000 „Kater“ hat der Mediziner seitdem kuriert und für den Rest des Jahres ist der Bus bereits weitgehend ausgebucht. Denn die Kater-Klinik ist keine Ambulanz, wo man sich nach einem überraschenden Absturz hinschleppt. So, wie sich viele Touristen mit Ansage ins Koma trinken, reservieren sie auch ihren Platz im Hangover-Heaven: „Flüge, Hotelzimmer, Kater-Kur – die meisten Besucher buchen das in einem Rutsch“, sagt Burke.
Moralisch ist das vielleicht ein zweifelhaftes Geschäft. Schließlich hilft Burke nicht nur heilen, sondern verleitet seine Patienten indirekt auch zum mehr oder minder bedenkenlosen Alkoholkonsum. Doch wirtschaftlich ist der Hangover-Heaven für beide Seiten eine klasse Idee. Für Burke, weil er pro Behandlung zwischen 120 und 200 Dollar kassiert und bei eher öffentlichkeitsscheuen oder besonders angeschlagenen Gästen auch Hotelbesuche für 500 Dollar aufwärts anbietet. Und für die Patienten, weil sie so keine wertvolle Urlaubszeit im Hotelzimmer verlieren. „Die Leute investieren ihren knappen Urlaub und zahlen oft tausende von Dollar für Flüge, Hotels und Shows. Da will man jede Minute genießen und nicht mit Kopfschmerz im Bett liegen. Deshalb haben sie das Gefühl, ihr Geld sei bei mir gut angelegt“ so Burke.
Junggesellen-Partys, runde Geburtstage, Hochzeiten oder Familienfeiern: Burks Patienten lassen sich in Las Vegas aus den unterschiedlichsten Gründen volllaufen – und müssen aus den unterschiedlichsten Gründen möglichst schnell wieder fit sein. Die einen, weil sie sonst den Heimflug nicht überstehen, die anderen weil sie schon am Nachmittag wieder in eine Show wollen, und wieder andere werden am Morgen danach auf irgendeiner Kongress-Bühne erwartet, auf der sie eine Rede halten oder ein Forschungsergebnis präsentieren sollen.
So verschieden wie seine Patienten, so bunt sind auch die Geschichten, die Burke nach einem Jahr als Kater-Koryphäe erzählen könnte. „Das würde für so manchen Abend am Kamin im Kreise meiner Enkel reichen“, sagt der 43-jährige Mediziner. Doch dummerweise ist unter den hunderten erinnernswerten Erlebnissen kaum eine Anekdote, die er dem Nachwuchs tatsächlich erzählen möchte. „Oder können Sie sich vorstellen, was man hier zum Beispiel alles erlebt, wenn die Porno-Branche ihre Oskars verleiht?“
Aber Burke gibt sich nicht nur bei jugendlichen Zuhörern betont zugeknöpft. Auch sonst lebt sein Geschäft vor allem von der Diskretion. Da hält er es wie Millionen von Touristen in jedem Jahr: „What happens in Vegas, stays in Vegas“ – „Was in Las Vegas passiert, bleibt auch in Las Vegas.“
Text und Fotos: Spot Press Services/Benjamin Bessinger