Leichtbau kann ganz schön schwer sein. Jedenfalls muss Hubert Drescher sich mächtig anstrengen, um den Semper Vivus zu einer Richtungsänderung zu bewegen. Das kleine Holzlenkrad steht in einem etwas ungünstigen Verhältnis zu den großen Vorderrädern, die zudem, gegen alle Regeln des Fahrzeugbaus, je 270 Kilogramm wiegen. Mit einem Gesamtgewicht von rund 1,7 Tonnen ist der offene Dreisitzer nach heutigen Maßstäben kein Leichtgewicht. Vor 111 Jahren, als das Fahrzeug anlässlich der Pariser Weltausstellung seine Premiere feierte, galt er hingegen als gleichermaßen leicht wie innovativ und schnell. Semper Vivus heißt auf Deutsch „immer lebendig“. Hinter dem optimistischen lateinischen Namen verbirgt sich der erste serielle Hybrid der Welt.
Die Konstruktion stammt von Ferdinand Porsche. Das Fahrzeug, das heute über das Kopfsteinpflaster der Stuttgarter Solitude rappelt, hat jedoch Hubert Drescher im Auftrag von Porsche gebaut: Das Original ist in den Wirren des vergangenen Jahrhunderts verloren gegangen. Erhalten blieben nur eine Patentschrift, ein auf eine Seite passender Plan und eine Reihe von Photos. Drescher ist auf den Neubau alter Autos spezialisiert. Und im Grunde genommen musste er die Erfindung und Entwicklung des damals 25-jährigen Ferdinand Porsche komplett nachvollziehen.
Damit das Modell authentisch wurde, bediente er sich der damals üblichen Techniken. Lediglich vier Teile des heutigen Fahrzeugs stammen aus dem Jahr 1900. Neben den Zylindergehäusen der beiden DeDion-Motoren sind es die Hupe und die vordere Lampe. Alles andere wurde neu produziert. „Es ist eigentlich nicht schwierig, alte Teile neu herstellen zu lassen“, erzählt Drescher, „schwierig wird es aber, wenn die geforderte Stückzahl eins ist.“ Dann steigen die Preise stark an und das Interesse der Zulieferer schwindet. Selbst vermeintlich einfach Teile verlangen enormen Aufwand. Vollgummireifen, wie sie der Semper Vivus auf der Hinterachse nutzt, werden heute nicht mehr hergestellt. Auf Bestellung kam ein Block Gummi, aus dem sich Drescher und sein Team den Reifen selbst schnitzten, wobei „schnitzen“ durchaus wörtlich zu nehmen ist.
Die mächtigen Hinterräder sind, ebenso wie die Vorderräder, völlig ungefedert. Vorne kommen immerhin luftgefüllte Pneus zum Einsatz. Die müssen das Gewicht der elektrischen Radnabenmotoren tragen. Mit der Idee, den Antrieb direkt ins Rad zu legen, war Porsche seiner Zeit weit voraus. Er sparte damit Getriebe und Differential ein und verbesserte so die Effizienz seines Antriebs deutlich. Damals ging ein großer Teil der Vortriebsenergie im hakeligen Lauf der Zahnräder verloren. Konsequent ließ Porsche diesen Ballast weg und setzte auf den elektrischen Antrieb im Rad. Als Fachmann der noch jungen Elektrotechnik erkannte er, dass die herkömmliche Konstruktion eines E-Motors als Radnabenmotor für die damaligen Straßenverhältnisse ungeeignet war. Statt eines zylinderförmigen Kollektors verwendete Porsche eine Scheibe, damit die Kohlebürsten des Motors von den Holperbewegungen des Rades unbeeindruckt ihren Kontakt halten konnten. Diese Technik hatte Porsche bereits im Lohner-Porsche, einem reinen Elektroauto, erfolgreich getestet.
Mit dem Semper Vivus ging er ein Problem der Elektromobilität an, dass auch heute noch ihr wichtigstes Thema ist: die Batterie und die damit verbundene geringe Reichweite des Fahrzeugs. Mit dem knapp 800 Kilogramm schweren Batterieblock unter dem Fahrzeugboden konnte man rund zweieinhalb Stunden oder etwa 50 Kilometer fahren. Das beschränkte den Einsatz auf reine Stadtgebiete, weil vor allem in ländlichen Regionen ein Stromanschluss zum Aufladen kaum zu finden war. Als Lösung dieses Dilemmas präsentierte Porsche zwei DeDion Einzylindermotoren, die mit ihren jeweils 3,5 PS einen Generator antrieben. Der versorgte die Radnabenmotoren mit Strom und lud die Batterie nach.
Die Batterie, die Motoren, der Generator und der Fahrer sitzen auf einem Träger, der an Federn im Fahrgestell aufgehängt ist. Dadurch sollten Erschütterungen der Batterie verhindert werden. Die damals üblichen Akkumulatoren hätten bei Stößen ihre Batterieflüssigkeit verloren und wären beschädigt worden. Das Reichweitenproblem war auf jeden Fall gelöst und der erste serielle Hybrid der Welt geboren. Es sollte allerdings ein Einzelstück bleiben.
Warum, lässt sich am neuen Semper Vivus erleben. Die beiden DeDion-Motoren müssen einzeln per Kurbel gestartet werden. Hinten sitzt kein Passagier, sondern eigentlich ein Maschinist, der ständig Gas und Zündung nachregeln muss. Die Technik funktioniert, aber sie ist nicht praxistauglich, weshalb schon der Nachfolger, der Mixte, einen Vierzylindermotor unter der Fronthaube hatte.
Nicht praxistauglich sind auch die Radnabenmotoren. Bis zu sieben PS bringen sie ans Rad, aber durch ihr hohes Gewicht erschweren sie die Lenkarbeit deutlich. Um den Semper Vivus zu fahren, benötigt man eine freie Strecke. Ein Ausweichmanöver will geplant sein, und zum Wenden kommt ein Busparkplatz gerade recht. Viel enger sollte es nicht sein.
Der Neubau des alten Prototypen verweist nebenbei noch eine moderne Autoidee ins Reich der Illusion. Radnabenmotoren würden zwar den Konstrukteuren zukünftiger E-Autos alle Freiheiten in der Gestaltung der Karosse und im technischen Package geben, zum Einsatz werden sie trotzdem wohl nicht kommen. Gleich zwei Motoren zu synchronisieren ist eine technische Herausforderung, die man seitens der Konstrukteure nicht eingehen will, schon gar nicht an der Hinterachse. Beim Ausfall eines Motors wäre ein Dreher kaum vermeidbar.
Doch zurück in die Gegenwart, die in diesem Fall gewissermaßen aus angewandter Vergangenheit besteht. Am Neubau des Semper Vivus haben Hubert Drescher und sein Team rund drei Jahre gearbeitet. Die Kosten dafür lagen bei etwa 500.000 Euro. Viel Geld für ein Schaustück – angesichts der Preise, die für manchen weitaus weniger seltenen Oldtimer aufgerufen werden, aber auch nicht zuviel. Und ganz nebenbei zeigen die Zuffenhausener mit diesem Modell, dass schon vier Jahrzehnte vor der eigentlichen Unternehmensgründung Begriffe wie Hybrid und Leichtbau mit dem Namen Porsche verbunden werden konnten.
Text: Spot Press Services/Günter Weigel
Fotos: Porsche, SPS