Diese Kuh bleibt einfach stehen. Mitten auf der Fahrbahn. Als ob sie auf einer Weide grasen würde. Stattdessen umfahren Autos und Mopeds mit lautem Hupen das Tier. Willkommen in Indien, dem Land der heiligen Kühe und katastrophalen Straßen, wo Staus nicht die Ausnahme, sondern die Regel – und Schlaglöcher so tief wie Baugruben sind. Wer als Autohersteller hier Erfolg haben will, muss seine Fahrzeuge an diese Gegebenheiten anpassen. „Der indische Kunde ist äußerst kritisch, der verlangt von unseren Autos vor allem eine hohe Qualität“, sagt John Chako, VW-Chef in Indien.
Dafür schicken die Hersteller ihre Fahrzeugentwickler in regelmäßigen Abständen an die unterschiedlichsten Orte, um die dort gefertigten Autos zu inspizieren. Volkswagen produziert seit zwei Jahren in Pune, im Bundesstaat Maharashtra – seit Mai 2009 den Škoda Fabia und seit Dezember 2009 den neuen VW Polo. Jüngster Spross der Kleinwagenfamilie ist der VW Vento, der seit August vom Band läuft. Die Limousine ist eine Mischung aus Polo und Golf und bietet als Kleinwagen ausgesprochen viel Platz, vor allem für die Fondpassagiere. Die können mit einem Handgriff den Beifahrersitz ganz nach vorne schieben. So entsteht ein Fußraum, der sich vor dem im Oberklassemodell Phaeton nicht verstecken muss – wobei die 4,38 Meter lange Limousine (Polo: 3,97 Meter) bloß 699.000 Rupien, umgerechnet 11.680 Euro kostet. Für einen normalen Arbeiter dennoch viel Geld – der verdient umgerechnet nur einen Euro in der Stunde, bei 48 Stunden in der Woche. Dem Erfolg scheint das nicht zu schaden: „Die meisten Ventos wurden bisher in der höchsten Ausstattung Highline ausgeliefert“, weiß Chako. Anders als in Europa gibt es die beiden Kleinwagen ohne ABS und ESP, optional ist die Sicherheitstechnik aber bestellbar.
VW-Entwicklungsvorstand Ulrich Hackenberg reist regelmäßig nach Indien, um die Autos auf Herz und Nieren zu prüfen – natürlich im regulären Verkehr. Mit Ruhe und Gelassenheit prüft er dabei die Funktion der Klimaanlage, Spaltmaße im Innenraum und die Verarbeitungsqualität. „Die Autos aus indischer Produktion entsprechen unserem weltweiten Standard, da gibt es ganz wenig qualitative Unterschiede zu Autos aus Deutschland“, sagt Hackenberg. Besonders in Indien hat VW einen guten Ruf, weil die Autos als deutsche Ingenieurskunst gelten. Und das, obwohl die Komponenten zu 65 Prozent aus dem eigenen Land kommen. Lediglich Motor, Getriebe und ein Teil des Fahrwerks stammen noch aus Europa. Aber das soll sich in den nächsten Jahren ändern.
Das stärkste Autowachstum findet derzeit in China statt, dieses Jahr mit plus 30 Prozent auf 10,9 Millionen Pkw. Auf dem zweiten Platz folgt aber direkt Indien mit einem Wachstum von 27 Prozent auf 2,3 Millionen. Bis 2018 sollen pro Jahr über fünf Millionen Neufahrzeuge verkauft werden. Zum Vergleich: Bei uns werden dieses Jahr voraussichtlich 2,9 Millionen Autos neu zugelassen. Zwar finden auf den permanent überfüllten Straßen am häufigsten Kleinstwagen wie der Tata Nano Käufer. Doch auch bei den etwas größeren Autos, den Kleinwagen, sieht VW ausreichend Bedarf in dem mit 1,2 Milliarden Einwohnern zweitbevölkerungsreichsten Land der Erde.
Der Innenraum des indischen Polo hat das identische Design und die gleiche Schalteranordnung wie der deutsche. Komfortdetails wie elektrische Fensterheber oder Automatikgetriebe gibt es optional. Selbst die Stoffe, die aus Indien kommen, sind zu unseren fast identisch. Die Spaltmaße stimmen, die Haptik auch, und nichts klappert oder knistert. Die Klimaanlage kühlt bei Höchstleistung leise den Innenraum und beschlägt dabei nur leicht die Innenscheibe. „Das ist nichts schlimmes, nur etwas Kondenswasser durch die hohe Luftfeuchtigkeit“, sagt Hackenberg. Im Innenraum fühlt man sich auf Anhieb wohl und gar nicht fremd – lediglich das Lenkrad auf der rechten Seite sorgt beim Einstieg für Irritation. In Indien herrscht Linksverkehr – eine Hinterlassenschaft des British Empire.
Die Straßen in Indien sind eine Katastrophe: Gut, dass der Vento ein weicher abgestimmtes Fahrwerk und eine um 15 Millimeter höher gelegte Karosserie hat. Wichtigster Unterschied ist aber die Hupe: Sie ist beim indischen Modell doppelt so stark ausgelegt wie bei uns. Die braucht man, um Kühe, Hunde und andere Verkehrsteilnehmer von den Schlaglochpisten zu vertreiben. Denn Vorfahrt hat der, der am lautesten hupt und am dichtesten drängelt – das Gesetz der Straße auf indisch. Zur Wahl stehen neben dem 1,6-Liter-Benziner mit 77 kW/105 PS ein gleichstarker Diesel, der 1.670 Euro Aufpreis kostet. Der Diesel ist die eindeutig bessere Wahl: Damit hat der Antrieb ausreichend Drehmoment, um einigermaßen entspannt ohne viel Schaltarbeit durch den Verkehr zu gleiten. Dagegen ist die Höchstgeschwindigkeit von 185 km/h zweitrangig. Alles oberhalb von 120 km/h ist auf den Buckelpisten lebensgefährlich. Konzentrierter Blick auf die Straße, beide Hände ans Lenkrad, und immer zum Hupen bereit – das ist der Indian Way of Drive.
Text und Fotos: Spot Press Services/Fabian Hoberg