Ingeborg Gleichauf: Jetzt nicht die Wut verlieren. Max Frisch – eine Biografie.
Nagel und Kimche Verlag; 18,90 Euro.
Er setzt sich höchst ungern in ein Flugzeug und er mag keine Liebesgeschichten spielen. Aber ihn fasziniert die Hauptfigur, dieser seltsame, in sich abgekapselte, fast sarkastische Ingenieur, den man schütteln möchte, um ihm auf die Sprünge zu helfen. Dieser Mann, der mit schlafwandlerischer Sicherheit durchs Leben geht und doch permanent über einem Abgrund schwebt.
Zwei gründliche Abneigungen hat Sam Shepard überwunden, weil diese Faszination so groß war. Dank Shepards Disziplin kamen Literatur- und Filmfans in den Genuss von Homo faber auf der Leinwand. Jenem Homo faber, der als Roman von Max Frisch Generationen von Schülerinnen und Schülern begleitet hat, die das Werk – seien wir ehrlich – oft genug schon deshalb nur mit Knurren und Murren gelesen haben, weil's auf dem Lehrplan stand und weil's eben des Lehrers Hausaufgabe war. Im Film kam heraus, was auch der Roman deutlich macht, wenn man ihn nicht mit einer – verständlichen – inneren Sperre liest: Dass die reine Technik und der pure Verstand nicht ausreichen, um im Leben zurecht zu kommen.
Aber es ist ja nicht nur Homo faber, dem sein Autor Max Frisch bis heute den Ruf als Klassiker von Schullektüren verdankt. Biedermann und die Brandstifter erlangten diesen Status ebenso wie Andorra, um nur zwei weitere zu nennen.
Es ist die große Überraschung an der Biographie von Ingeborg Gleichauf, dass sie diesem Klassiker-Ruf so vehement und so anschaulich entgegentritt. Mit Recht. Klassiker, das sind – so verdienstvoll die Inhalte sein mögen – der Wahrnehmung nach die etwas angestaubten, wohlfeil formulierten Werke, mehr oder wenig langweilig zwar, aber vielleicht zum Renommieren gut geeignet, weil sie im Bücherregal doch eine gute Figur machen.
Bei Ingeborg Gleichauf erscheint Max Frisch als ein ausgesprochen lebensfroher, angenehmer Zeitgenosse. 1911 geboren, legt er sich erst nach einigen Jahren als Student aufs Schreiben fest. Vor der Entscheidung steht eine ganz einfache Frage – wenn er Schrifsteller werden will, wird er auch davon leben können? Als Vierzigjähriger kommt der Schweizer in den Genuss eines USA-Stipendiums für ein Jahr – in den frühen Fünfziger Jahren weit sensationeller als heute. Richtig zuhause war er letztlich nirgends, immer ein Reisender, erst mit fast 80 Jahren, schon schwer krank, scheint er in der Schweiz zur Ruhe zu kommen. Und ausgerechnet sein Heimatland fügt ihm eine fürchterliche Blessur zu: Er ist schon alt, als er erfährt, dass Schweizer Behörden ihn – wie auch andere prominente Schweizer – über Jahrzehnte bespitzelt haben. Andererseits, bei aller Kränkung – ein größeres Kompliment an den wachen Verstand eines Menschen kann es vielleicht nicht geben. Zu allem Überfluss wurde die Aktion auch noch derart dilettantisch ausgeführt, dass man beim Nachlesen bloß noch den Kopf schütteln kann.
Wir wollen versuchen, es denen schwer zu machen, die sich als Klassiker ablegen möchten, hat der Schrifsteller Peter Bichsel in seiner Trauerrede dem Freund und Kollegen Max Frisch versprochen. Das war 1991, nachdem Frisch einer schweren Krebserkrankung erlegen war. Zugleich hat Bichsel gleichsam das Motto ausgegeben: Jetzt nicht die Wut verlieren. Ingeborg Gleichaufs Buch ist eine Einladung, Bichsels Aufruf zu folgen.