Henryk M. Broder: Kritik der reinen Toleranz.
wjs Verlag (Wolf Jobst Siedler jr); 18 Euro
Eine Kritik an der Toleranz? Nein, der Buchtitel ist kein Druckfehler. Mehr noch – erst auf der Rückseite des Schutzumschlags legt Autor Henryk M. Broder sein Anliegen zur Gänze offen: Er plädiert dafür, die Intoleranz als notwendige Tugend (wieder) zu entdecken. Eine Streitschrift im klassischen Sinne des Wortes. Man muss dem, was Broder schreibt, nicht völlig zustimmen. Man kann ihm sogar ruhigen Gewissens Polemik bescheinigen. Lesen, und zwar gründlich lesen, sollte man sein Buch allerdings schon.
Toleranz – was heißt das eigentlich genau? Nichts anderes als: Andere Menschen nach ihren Vorstellungen leben und handeln lassen. Positiv ist das, wenn der Einzelne es praktiziert, so lange, wie ein friedliches Miteinander dieser Menschen dadurch nicht in Gefahr gerät. Und genau diese Bedingung fordert der Publizist nachdrücklich ein.
Im ICE auf voller Fahrt ist in einem voll besetzten Wagen nur eine Person zu hören. Die allerdings umso vernehmlicher, da sie lautstark via Handy eine Auseinandersetzung führt. Gestört fühlt sich, wer da ein Buch oder eine Zeitung lesen, aus dem Fenster schauen oder vielleicht einfach nur in Ruhe gelassen werden will. Die Mitreisenden jedenfalls geht die Auseinandersetzung, deren Zeuge sie werden, höchstwahrscheinlich nichts an, sie ist für die Passagiere noch nicht einmal von Interesse. Aber es ist selten, dass in einer solchen Situation einer der restlichen Passagiere den lautstarken Kommunikator um Mäßigung bittet. Eine solche Bitte wäre ja Ausdruck von Intoleranz, und wer will diesen Stempel schon haben? Broder will – und macht unter anderem an diesem Beispiel die Gründe für seine Streitschrift deutlich: Toleranz wird zum Problem, wenn sie so verstanden wird, dass doch bitte jeder und jede gewähren möge, unabhängig von den Konsequenzen für andere.
Wesentlich drastischer fällt das Plädoyer aus, wenn er anhand von Straftaten und ihrer Beurteilung ausführt, dass die unkritisch praktizierte Toleranz zur Ohnmachtserklärung des Rechtsstaates wird. Dass er dabei den religiös motivierten Straftaten besonders viel Raum gibt, ist nur logisch. Nein, das ist kein Populismus, kein Aufruf zu Lynchjustiz: Broder ruft einen ganz einfachen Grundsatz in Erinnerung, der zu den ersten gehört, die im Politikunterricht gelehrt werden: Die Rechte eines Menschen werden unter anderem durch die Rechte anderer begrenzt. Vulgo: Man darf nicht einfach tun und lassen, was man gerade tun möchte. Toleranz soll nicht heißen, jemanden gewähren zu lassen in der Hoffnung, dass dieser Jemand einen beim Ausüben von Gewalt doch aus Dankbarkeit verschonen möge, aus Dankbarkeit dafür, dass man ihn gewähren ließ. Genau vor diesem Eindruck setzt sich Broder für eine Überprüfung des Toleranzbegriffs ein: Wenn sie zur Beliebigkeit wird, verkehrt sich ihre an sich positive Bedeutung ins Gegenteil.
Henryk M. Broder will sicher keine uneingeschränkte Zustimmung erreichen, sondern wohl eher eine Werte-Diskussion in Gang setzen: Sind wir tolerant? Ja, selbstverständlich. Aber wir wissen da auch um unsere Grenzen.
Übrigens: Viele Gedanken aus diesem Buch hat schon Mitte der siebziger Jahre der 2006 verstorbene Liedermacher Robert Long in knappe Zeilen gefaßt. Bei ihm hieß die Umdeutung der Toleranz zur völlig unkritisch praktizierten Beliebigkeit, um sich ja bei niemandem unbeliebt zu machen: Morgen sind wir tolerant/und geben jedem A……. die Hand.